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Schonungslos ehrliche Erfahrungsberichte von Suchterkrankten

„Eine Handvoll Kraft“ heißt der Titel des Buches, in dem Süchtige offen über ihre Erkrankung schreiben. Initiiert und begleitet haben das Projekt Ärzt*innen und Therapeut*innen der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Vivantes Wenckebach-Klinikums. Teil dieses Teams waren unter anderem die Ergotherapeutin Susanne Seel und der Kunsttherapeut Jonas Büßecker.

Wie ist die Idee zu diesem Buch entstanden, das auch bei dem Wettbewerb „Vivantes ausgezeichnet!“ gewonnen hat?

Seel: Es ging uns um Entstigmatisierung, darum, den Suchterkrankten mehr Raum und Stimme zu geben. Auch der Aspekt der Selbsthilfe, also sich und anderen Betroffenen zu helfen, spielte eine Rolle. Ein Buch, das veröffentlich wird, gibt noch einmal einen anderen Rahmen, als das Schreiben, das sonst im Zusammenhang von Therapie genutzt wird.

 

Wie haben Sie den Schreibprozess begleitet?

Seel: Von unserer Seite gab es keinerlei Vorgaben zu Form oder Länge. Der Schreibprozess war sehr unterschiedlich. Nicht alle haben in einem zusammenhängenden Stück geschrieben. Manche haben bei ihrem ersten Aufenthalt begonnen und bei ihrem zweiten Aufenthalt das Schreiben fortgesetzt. Das war dann teilweise auch sehr aufwühlend, wenn sie die Zeilen aus der Vergangenheit gelesen haben. Das haben wir als Therapeuten natürlich in Gesprächen begleitet.

 

Wovon waren Sie als Therapeut*innen während des Projekts überrascht?

Seel: Im Vorfeld des Schreibens haben wir den Hinweis gegeben: Sie dürfen ehrlich sein. Trotzdem hat mich diese sehr große Offenheit in den Texten überrascht. Für die Teilnehmenden war es etwas Befreiendes, weil sie sich schriftlich und unkommentiert, statt in einem Gespräch ausdrücken konnten. Einige haben privat im Anschluss an ihren Aufenthalt bei uns sogar weitergeschrieben.

Büßecker: Ich war beeindruckt, welche Ressourcen durch das Projekt aktiviert werden konnten und mit welchem berechtigtem Stolz, sie die gedruckte Ausgabe entgegengenommen haben.  Es hat den Teilnehmenden unheimlich viel bedeutet, dass sie mit diesem Projekt zeigen konnten, dass sie etwas gut können. Als Suchterkrankte stehen sie sonst eher für Menschen mit Fehlern, Defiziten und so weiter.

 

"Mit einem einzigen Entzug ist es meistens nicht getan."

 

Inwiefern helfen die Autor*innen mit ihren Erfahrungsberichten anderen Suchterkrankten?

Seel: Jeder ist in einer anderen Phase des Entzugs. Für jemanden, der am Beginn einer Therapie steht, ist es eine wichtige Erkenntnis: Mit einem einzigen Entzug ist es meistens nicht getan. Sich in Erfahrungen anderer wiederzuerkennen oder einfach nur zu lesen, mit welchen Herausforderungen andere Suchterkrankte zu kämpfen hatten, empfinden viele als Hilfe.

Büßecker: Wir stehen auch mit vielen Einrichtungen und externen Therapeuten in Kontakt, die großes Interesse bekundeten und diese Erfahrungsberichte gerne im Rahmen ihrer Arbeit nutzen würden.

 

Haben Sie bereits einen zweiten Band geplant?

Büßecker: Zunächst einmal sehen wir noch viel Potential in dem vorliegenden Band. Eine höhere Druckauflage wäre schön, damit wir das Buch noch mehr Interessierten zugänglich machen können als bisher. Außerdem gibt es viele Ideen, wie beispielsweise einen Podcast zu produzieren oder zu Lesungen einzuladen.

 

Link

https://www.vivantes.de/wenckebach-klinikum/psychiatrie-psychotherapie-und-psychosomatik

Vivantes ausgezeichnet!

Der Ideenwettbewerb „Vivantes ausgezeichnet!“ ist ein Ideenwettbewerb für besonderes Engagement der Vivantes Mitarbeiter*innen. Seit 2016 wird der Preis jährlich in den Kategorien Forschung und Lehre, Soziales, Qualität sowie als Jurypreis verliehen.

Alle Nominierten im Video:

Auszeichnung 2021 | Vivantes