Ethik im Krankenhaus – wenn es kein „Richtig“ oder „Falsch“ gibt

Wie sind Sie Mitglied im Ethikkomitee geworden?
Mich haben ethische Fragestellungen schon immer sehr interessiert. In der Psychiatrie, wo ich arbeite, geht es zwar selten um Entscheidungen am Lebensende, wie sonst häufig in der Ethikarbeit. Aber wir haben es oft mit Menschen zu tun, deren Willensbildung krankheitsbedingt beeinträchtigt ist. Auch hier stehen wir häufig vor schwierigen ethischen Abwägungen zwischen dem Willen und dem Wohl der Betroffenen.
Inwiefern?
Es kommt vor, dass Menschen mit komplexen psychischen Erkrankungen, wie z.B. Schizophrenie, eine Behandlung ablehnen. Eine Patientin beispielsweise war oft bei uns, fühlte sich aber nicht psychisch krank und wollte nicht von uns behandelt werden. Während einer akuten Krankheitsepisode bedrohte sie Mitarbeitende in der Wohnungsloseneinrichtung, in der sie lebte, so dass sie dort ihren Wohnplatz verlor. Wir stehen in solchen Situationen zwischen dem sehr hohen Gut der Autonomie der Patientin, ihrem Willen auf der einen Seite, und einer notwendigen Behandlung, um sie und ihr Umfeld zu schützen, auf der anderen.
Welche Aufgabe hat das Ethikkomitee?
Wir bieten sogenannte Ethik-Konsile, also ethische Fallberatungen an, das ist sozusagen unser Werkzeug. Jede Station oder Abteilung kann eine solche Beratung anfragen, wenn schwierige Entscheidungen getroffen werden müssen oder wenn Uneinigkeit über den weiteren Verlauf der Therapie besteht. In der Beratung geht es darum, alle Informationen zusammenzutragen und die verschiedenen Handlungsoptionen nach ethischen Gesichtspunkten gegeneinander abzuwägen.
Wie hilft so eine Fallberatung, wenn es kein „Richtig“ oder „Falsch“ gibt?
Wenn die verschiedenen Handlungsoptionen auf dem Tisch liegen, betrachten wir erstmal die angesprochenen ethischen Dimensionen, die gleichwertig nebeneinanderstehen: Wenn Patient*innen nicht oder nicht ausreichend in der Lage sind für sich selbst zu sprechen - sei es, weil ihre Willensbildung aufgrund einer psychischen Erkrankung oder einer Demenz beeinträchtigt ist, oder weil sie gerade nicht bei Bewusstsein sind, wie es etwa auf der Intensivstation vorkommen kann - versuchen wir gemeinsam, den mutmaßlichen Patientenwillen zu ergründen. Es geht darum, die Autonomie der Patientin oder des Patienten bestmöglich zu wahren. Als nächstes wird abgewogen, welchen Schaden und welchen Nutzen die verschiedenen Handlungsoptionen mit sich bringen. Ist eine Behandlung möglich? Müssten dafür aber vielleicht unverhältnismäßig starke Schmerzen oder andere Nebenwirkungen in Kauf genommen werden? Eine dritte Dimension ist die Gerechtigkeit – alle Seiten sollen gehört und vorhandene Ressourcen möglichst fair verteilt werden.

Sobald alle Fakten auf dem Tisch liegen und explizit aus der mutmaßlichen Sicht der Patient*innen betrachtet werden, bildet sich meistens eine klare Tendenz, nach der gehandelt werden kann.
Die Fallberatung ist berufsgruppen- und fachübergreifend. Könnten Sie als Psychiaterin denn beispielsweise etwas zu einem kardiologischen Fall sagen?
Ja, die Schönheit unseres Werkzeugs der ethischen Fallberatung besteht in den klaren Strukturen; nicht das medizinische Fach, sondern die ethische Frage steht im Vordergrund. Im Alltag arbeiten wir häufig im „Tunnel der eigenen Fachdisziplin“. In der Fallberatung sitzen alle Akteur*innen zusammen, die Teil des ethischen Konflikts sind. Stellen Sie sich vor, ein Patient hat eine fortgeschrittene urologische Krebserkrankung. Der Operateur sieht gute Chancen für eine erfolgreiche OP, wenn eine anschließende Reha stattfindet. Der Patient hatte aber zusätzlich einen Schlaganfall mit schweren und vermutlich bleibenden Auswirkungen auf seine kognitiven Fähigkeiten. Die Neurologin hat deswegen Bedenken, wie gut der Patient bei der Reha überhaupt mitmachen kann. In der ethischen Fallberatung geht es darum, die Fakten ganz neutral von allen beteiligten medizinischen Disziplinen zusammenzutragen. Erst, wenn alle gehört wurden, werden die Handlungsoptionen benannt und dann gemeinsam bewertet.
Wie sind die Reaktionen auf die Bewertungen des Ethikkomitees?
Es geht explizit nicht darum, dass das Ethikkomitee dem Behandlungsteam die Entscheidung abnimmt. Wir sind keine höhere Instanz. Wir bilden den Rahmen und moderieren die Besprechung. Die Entscheidung trifft das Behandlungsteam danach selbst. Die fundierte Ausbildung der Mitglieder und der klare Ablauf der Sitzung sind entscheidend. Meine Erfahrung ist aber, dass sich im Laufe des Gesprächs, sobald alle Fakten auf dem Tisch liegen und explizit aus der mutmaßlichen Sicht des Patienten oder der Patientin betrachtet werden, meistens eine klare Tendenz bildet, nach der gehandelt werden kann.
Gibt es weitere Beispiele, wann die Hilfe des Ethikkomitees besonders wichtig ist?
Ja, wenn die Betroffenen keine Angehörigen haben und vielleicht auch selbst nicht gefragt werden können. Wir hatten mal eine Fallberatung zu einer neurologischen Patientin, die über 90 Jahre alt war und aufgrund eines akuten Schlaganfalls nicht mehr sprechen konnte. Sie war wach, wollte aber nicht mehr essen und keine Therapien mitmachen. Statt einfach zu entscheiden: Sie wird jetzt palliativ gepflegt, wollte das Behandlungsteam sorgfältig vorgehen und herausfinden: Gibt es in ihrem Umfeld noch Menschen, die sie kennen und einschätzen können? Haben wir alles berücksichtigt? Was wissen wir? Wie können wir eine informierte Entscheidung in ihrem Sinne treffen und ihren mutmaßlichen Willen – ihre Autonomie – bestmöglich berücksichtigen?
Was wünschen Sie sich für die Ethikarbeit bei Vivantes?
Ich würde gerne bekannter machen, dass sich Angehörige und Behandlungs-Teams bei uns Unterstützung für ethische Fragestellungen holen können. Keiner muss sich damit allein fühlen. Wir treten sehr kurzfristig - oft schon am nächsten Tag - zusammen. Ich halte die Fallberatungen für ein wirklich wertvolles Werkzeug. Alle Beteiligten lernen und nehmen viel mit und die Empfehlungen kommen den Patient*innen unmittelbar zugute.
Dr. Sabine Bendix ist leitende Oberärztin des Departments für Seelische Gesundheit. Seit 2019 arbeitet sie am Vivantes Humboldt-Klinikum. An der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) in Göttingen schloss sie 2023 eine zertifizierte Weiterbildung zur Ethikberaterin im Gesundheitswesen ab.
Was machen Ethikkomitees bei Vivantes?
Die Klinischen oder auch Lokalen Ethikkomitees (KEK) sind standortgebundene Gremien an den Kliniken von Vivantes. Sie unterstützen Patient*innen, Angehörige sowie Mitarbeitende aus Medizin, Pflege und Therapie bei ethisch komplexen Entscheidungssituationen.
Die Ethikberatung erfolgt ergebnisoffen, auf Anfrage und freiwillig – im Rahmen strukturierter Fallbesprechungen. Ziel ist es, gemeinsam tragfähige und reflektierte Entscheidungen zu treffen, wenn medizinische, persönliche und ethische Perspektiven aufeinandertreffen.
Die KEK arbeiten eng mit dem übergeordneten Vivantes Ethikrat zusammen, der Leitlinien und Empfehlungen für die gesamte Organisation entwickelt.