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Therapie im Wohnzimmer

„Ein guter Freund war gestorben und gleichzeitig drohte mir der Rausschmiss aus meiner geliebten Wohnung. Das hab ich nicht gepackt. Ich bin in die Krise gestürzt“, berichtet Petra B. Sie möchte anonym bleiben.

Ihre genaue Diagnose soll hier ebenfalls keine Rolle spielen. „Verzweifelt habe ich mich an meine Ärzte in Neukölln gewandt.“ Normalerweise wäre sie stationär in der Klinik aufgenommen worden. Jetzt sitzt Petra B. auf ihrem Sofa, hat die Beine hochgelegt. Im Hintergrund plätschert beruhigend ein kleiner Brunnen, Kerzen tauchen das Wohnzimmer in weiches Licht, es duftet nach Orangenöl. Petra B. darf zu Hause bleiben. Denn ein Flexibles Team versorgt die Patientin im Rahmen der sogenannten stationsäquivalenten Behandlung – kurz StäB.

Neue Form der Versorgung

StäB ist ein neues Angebot in der Regelversorgung für schwer seelisch erkrankte Menschen. Das „Home Treatment“ ergänzt als vierte Säule die ambulante und stationäre Behandlung in den Krankenhäusern sowie die Therapien in Tageskliniken. Seit Juni 2018 können laut Gesetz (PsychVVG)
akute psychische Krisen, für die ein vollstationärer Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik nötig wäre, im gewohnten Lebensumfeld der Erkrankten behandelt werden. Diese Behandlungsform kann anstelle einer vollstationären Behandlung erfolgen oder diese verkürzen. Sie ist, ebenso wie ein Klinikaufenthalt, zeitlich begrenzt.

Mindestens einmal am Tag gibt es dann einen Termin mit einer Expertin oder einem Experten aus dem Flexi-Team vor Ort. „Mit StäB steht uns ein niederschwelliges Angebot zur Verfügung“, erklärt Sandeep Rout, Oberarzt und Leiter des Neuköllner Teams. „Manche Menschen haben Vorbehalte gegen einen Klinikaufenthalt, sie befürchten zum Beispiel eine Stigmatisierung.“ Andere Patientinnen und Patienten sehen keine Möglichkeit, sich auf eine Station einweisen zu lassen, weil etwa Kinder oder Eltern nicht betreut würden oder Haustiere unversorgt blieben.

Vivantes hält in den Kliniken Neukölln und Am Urban jeweils 14 Plätze für die stationsäquivalente Behandlung bereit. In den behandelnden Teams vertreten sind zum Beispiel Fachärztinnen und -ärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Nervenheilkunde, psychologische Psycho- und Ergotherapeutinnen und -therapeuten sowie Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und -pfleger und Genesungspflegerinnen.

Prinzip Heimatstation

Bereits seit 2016 sammelt Sandeep Rout im Rahmen eines Modellprojektes mit der Krankenversicherung DAK-Gesundheit Erfahrungen mit der „aufsuchenden Therapie“. Diese erweisen sich als wertvoll und fließen in die flexibilisierte Akutbehandlung ein: „In Neukölln haben wir StäB in unser sozialpsychiatrisches Konzept integriert.“ Dazu nutzt die Vivantes Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik das Prinzip der „Heimatstation“: Wird eine Patientin oder ein Patient entlassen, kommt sie oder er bei einem eventuellen nochmaligen Aufenthalt auf dieselbe, ihm schon bekannte Station. Erkrankte Menschen werden auf diese Weise kontinuierlich von bereits vertrauten Ansprechpartnerinnen und -partnern behandelt und versorgt.

Stress vermeiden und Kraftquellen nutzen

Sandeep Rout und Petra B. begegneten sich zum ersten Mal vor zwei Jahren, das Vivantes Klinikum Neukölln kennt Petra schon seit 2012. Hier hat sie auch extreme Facetten einer akuten psychiatrischen Behandlung erlebt. „Trotz dieser Erfahrungen bin ich mit meiner Heimatstation sehr zufrieden, ich trage nichts nach.“ Diesmal sollte allerdings ein anderer Weg eingeschlagen werden. Sandeep Rout: „Die Patientin hat uns sehr bewegt, sie war öfter in der Rettungsstelle. Wir wollten nicht, dass es ihr wieder so schlecht geht, und haben im Rahmen eines ambulanten Termins über eine stationsäquivalente statt einer stationären Behandlung gesprochen.“

Warum Petra B. nicht gern in der Klinik ist? „Dort prasseln viele Eindrücke auf mich ein, und ich kann mich nicht von anderen Patienten abgrenzen. Ich bekomme Angst.“ Den Ärztinnen und Ärzten gegenüber fällt es ihr dann schwer, sich mitzuteilen.

„Wenn jemand auf die Station kommt, arbeiten wir ressourcenorientiert – wir finden also zunächst heraus, was die Patientin oder der Patient gut kann, was ihr oder ihm guttut“, erklärt Sandeep Rout. „Im privaten Umfeld können wir das allerdings viel besser erkennen.“

Einblick ins Zuhause

Im Wohnzimmer von Petra B. lassen sich zahlreiche Stationen ihres Weges und ihre Interessen deutlich ablesen: An der Wand hängen handgeschriebene Zettel mit positiven Botschaften, Bilder von Urlauben und Freunden, Bücher sind auf dem Boden verteilt. Indem sie dem behandelnden Arzt und anderen Mitgliedern des Flexiblen Teams die Tür öffnet und sie willkommen heißt, lässt sie einen sehr intimen Blick in ihr Leben zu.

in weiterer Vorteil dieser Form der Behandlung ist, dass die Ärztinnen und Ärzte sowie Therapeutinnen und Therapeuten auch mit dem Netzwerk der Patientinnen und Patienten vertraut werden. Sie lernen beispielsweise unterstützende Faktoren wie die Familie kennen und auch, sie zu nutzen. „Wir haben hier keine typische Arzt-Patientin-Situation. Wir sind bei der Patientin zu Gast.“

Eine gute Beziehung zwischen beiden Seiten ist sehr wichtig. Dabei geht es natürlich auch um Vertrauen. Sandeep Rout und Petra B. gehen locker miteinander um, sind sich zugewandt. Man spürt, dass sie sich kennen und wertschätzen. „Ich empfinde es als große Bereicherung, wenn die
Behandelnden mich privat erleben. Hier kann ich ohne Angst zeigen, wer ich wirklich bin“, erzählt Petra B.

Zu Hause kann sie besser entspannen, und es gelingt ihr, sich intensiv über Bedrückendes und Belastendes auszutauschen. Außerdem hat die Patientin hier Dinge um sich, die ihr guttun: etwa ihre beiden Wellensittiche Noah und Bela, die fröhlich zwitschern. „Als ich damals von dieser Form der
Behandlung erfuhr, habe ich mir das zunächst nicht zugetraut. Und jetzt bin ich mittendrin – für mich bedeutet StäB einen Riesen-Lernschritt!“

Zurück in die Normalität

StäB soll darüber hinaus dazu beitragen, dass seelisch kranke Menschen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen – Patientinnen und Patienten etwa soziale Kontakte aufrechterhalten oder Hobbys pflegen, die ihnen früher wichtig waren. Daher begleitet eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter aus dem StäB-Team auch schon mal beim Einkaufen. Oder eine Mutter kocht gemeinsam mit der Ergotherapeutin für ihre Kinder, wie sie es seit zehn Jahren nicht mehr getan hat. „Es geht uns darum, dass die Menschen zurück in die Normalität finden“, so der Oberarzt.

Früher wollte Petra B. Journalistin, später dann Foto-Designerin werden. Bis die Krankheit kam. Heute besucht sie mit Freude einen Schreibkurs. Stolz berichtet sie, dass sie seit eineinhalb Jahren nicht mehr in die Klinik aufgenommen werden musste. „Aber“, betont sie, „wenn ich jetzt doch noch mal in die Klinik muss, wäre das nicht schlimm. Wer das Stationspersonal dort kennt, weiß, dass er in guten Händen ist.“

Vertrauensbeweis

„Wenn sich Patientinnen und Patienten mit ihren seelischen Erkrankungen frühzeitig bei uns melden, ist das ein großer Vertrauensbeweis“, erklärt Sandeep Rout und lehnt sich auf dem Sofa zurück. Ihm gehe es vor allem darum, langfristig Gewalt und Zwang zu vermeiden und die Psychotherapie zu intensivieren. „Die stationsäquivalente Behandlung steht Patientinnen und Patienten als Regelleistung zu. Bisher bieten in Berlin allerdings nur die Vivantes Kliniken Am Urban und Neukölln dieses Angebot an. Ich wünschte, es wären mehr.“

Perspektivisch möchte Vivantes sein Engagement für die neue Regelleistung mit einem dritten StäB-Standort weiter ausbauen. An dem könnten sich dann Menschen mit psychischen Erkrankungen in akuten Krisensituationen melden, ohne den Kontakt zur Klinik aufnehmen zu müssen.


Dieser Artikel ist auch schon im Vivantes Magazin Ausgabe 1/2020 erschienen.