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Absolute Beginner in Sachen Liebe: Erwachsen und unerfahren

Wie fühlt sich ein Leben an, ohne Beziehung, ohne körperliche Nähe, ohne Sex? Ein Verhaltenstherapeut und Sexualmediziner erklärt, was Langzeitbeziehungslosen helfen kann.

Nicht nur in der Weihnachtszeit einsam

Noch nie eine Beziehung gehabt? Gerade in der Weihnachtszeit fühlen sich viele Menschen dann besonders einsam. Verlässliche Zahlen zu „Langzeit-Beziehungslosen“ gibt es kaum.

Datingportale bemühen sich in eigenen Umfragen regelmäßig um mehr Informationen. So ergab 2019 eine Befragung von 9.000 Personen durch ElitePartner, dass sechs Prozent von ihnen noch nie in einer Beziehung waren. Allgemeinen Schätzungen zufolge hatten zwei bis fünf Prozent der erwachsenen Deutschen noch nie Sex, darunter deutlich mehr Männer als Frauen.

Was steckt hinter dem Phänomen „Absolute Beginner“, kurz AB? Wenn man Mitte 20 oder 30 ist – oder auch älter – und keine Erfahrung hat mit der Liebezu einem Mann oder einer Frau? Im Interview erklärt dies Tobias Hellenschmidt, Facharzt für Kinder und Jugendpsychiatrie, Verhaltenstherapeut und Sexualmediziner aus dem Vivantes Klinikum im Friedrichshain.

Nicht alle wünschen sich partnerschaftliche, intim-sexuelle Beziehungen

Herr Hellenschmidt, gibt es den typischen Absolute Beginner?

Tobias Hellenschmidt: „Menschen haben die verschiedensten Gründe und Entwicklungen, die sie zur Vermeidung von Beziehungen einschließlich intim-sexueller Kontaktaufnahme führen. Es gibt ja keine Verpflichtung, wann, wie, mit wem und wie oft ich Kontakt zu einer anderen Person aufnehme. Grundsätzlich gilt: Alles darf, nichts muss!

Gleichzeitig sind partnerschaftliche, intim-sexuelle Beziehungen eine großartige Möglichkeit, unsere psychosozialen Grundbedürfnisse zu erfüllen. Die meisten Menschen wünschen sie sich. Es geht eben nicht nur um die „schönste Nebensache der Welt“, sondern um einen integralen Bestandteil menschlicher Identität und menschlichen Sinnerlebens."

Woran liegt es dann, dass Menschen ohne Sex und ohne Beziehung leben?

Tobias Hellenschmidt: „Die Biografien sind sehr unterschiedlich. In der Regel ist den Betroffenen jedoch gemeinsam, dass sie dysfunktionale und angstauslösende Vorstellungen bezüglich ihrer Sexualität haben. Diese basieren häufig auf Leistungs- und Versagensangst. Die tief verinnerlichte Vorstellung, in sexueller Hinsicht uninteressant, unattraktiv, nicht liebenswürdig zu sein, führt zu immer stärkerem Vermeidungsverhalten.

Auch psychische Störungen wie Depressionen, posttraumatische Belastungs- oder Persönlichkeitsstörungen können Beziehungen erschweren. Fortwährende, traumatisierende Erfahrungen in der Kindheit führen häufig zu negativen Grundannahmen über die eigene Liebenswertigkeit. Kontakte, die sich in Richtung Intimität entwickeln, werden dann plötzlich abgebrochen und am Ende gar nicht mehr versucht. Diese Dynamik geht weit über eine gewisse Zurückhaltung oder Schüchternheit, wie sie viele bei der Kontaktanbahnung empfinden, hinaus."

Wie hoch ist der Leistungsdruck der Betroffenen?

Tobias Hellenschmidt: „Vor allem bei Männern führen Selbstzweifel und Versagensängste bezüglich ihrer sexuellen Fähigkeiten zur Vermeidung von Partnerschaft und Intimität. Dabei entsteht häufig ein „Teufelskreis“ – aus Scham wegen der nicht vorhandenen Beziehung sowie der Angst, eine solche zu versuchen. Die Furcht vor Stigmatisierung verstärkt die Unfähigkeit, sich anderen zu öffnen und hilfreiche Unterstützung zu suchen. Gemessen an der erwähnten Bedeutung psychosozialer Grundbedürfnisse – sich angenommen, bestätigt und geborgen zu fühlen – wird verständlich, wie hoch der Leidensdruck sein kann, wenn eine Partnerschaft nicht entsteht, obwohl man es sich so sehr wünscht. Deshalb gibt es die „Sad Singles“: Menschen, die lebenslang mit dieser unfreiwilligen, leidvoll erlebten Partner*innenlosigkeit befasst sind."

Eigene Attraktivität und Liebenswürdigkeit ekennen - aber wie schafft man das?

Was können sie selbst verändern?

Tobias Hellenschmidt: „Betroffene denken oft gar nicht mehr bewusst über die Ursachen ihres Vermeidungsverhaltens nach, sie hinterfragen bestimmte Selbstbewertungen und Annahmen nicht mehr, und diese werden zu „Wahrheiten“. Da ist es zunächst gut, sich innerlich klar über die Ängste und das daraus entstehende Verhalten zu werden, zu lernen und genau hinzusehen, Begriffe für das eigene Erleben zu finden. Die bewusste Akzeptanz, also die Anerkennung des Problems, ist oft der Ausgangspunkt, etwas verändern zu können, sich Hilfe zu holen, aktiv zu werden!

Es geht darum, negative Grundannahmen bezüglich der eigenen Attraktivität und Liebenswürdigkeit zu erkennen und sie aufzulösen. Dazu gehören auch jegliche Vorstellungen über die Sexualität, in denen es um Leistung anstatt Befriedigung und Erleben von Annahme und Beziehungslust geht. Druck und Angst müssen aufgelöst werden, um das Erleben von partnerschaftlicher Nähe zulassen zu können."

Ängste und Vermeidungsstrategien können aufgelöst werden

Wie sieht sinnvolle Hilfe von außen aus?

Tobias Hellenschmidt: „Oft sind diese Ängste und Vermeidungsmuster bereits so chronisch und etabliert, dass eine therapeutische Hilfe sinnvoll ist. Diese kann im Rahmen einer Psychotherapie mit sexualtherapeutisch erfahrenen Therapeut*innen erfolgen oder einer Selbsthilfegruppe. Den Betroffenen sollte Hoffnung gemacht werden, dass zugrundeliegende Ängste und stabile Vermeidungsstrategien aufgelöst werden können. Und sie sollten darin bestärkt werden, sich ihre sexuellpartnerschaftlichen Wünsche zu erfüllen!“

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Dieser Artikel ist auch im Vivantes Magazin gesund!, Ausgabe 3/2022 erschienen.