Auswege aus der Abhängigkeit – Empfehlungen des Suchtmediziners

Gibt es Warnsignale für Angehörige und Betroffene, wann riskanter Konsum zu Sucht wird?
Der Übergang vom riskanten über missbräuchlichen Konsum bis zur manifesten Sucht verläuft in der Regel schleichend. Daher sind Warnsignale gar nicht so offenkundig. Angehörige und die Betroffenen selbst wissen zwar um den problematischen Konsum, häufig gelingt es jedoch nicht, rechtzeitig ins Gespräch zu kommen. Unangenehme Wahrheiten werden auf beiden Seiten nicht angesprochen. Und so dreht sich die Suchtspirale und die Nebenwirkungen des Konsums werden zunehmend sichtbar. Ein frühes Warnsignal kann die Beobachtung sein, dass Menschen mit einer Konsumstörung ihre Interessen, Hobbies und Beziehungen vernachlässigen zugunsten des Konsums. Ein weiteres Warnsignal für Angehörige wäre, dass sich das Familienmitglied zurückzieht, bis hin zur Isolierung. Die Betroffenen wiederum fühlen sich oft einsam und depressiv, was wiederum den Konsum steigern kann.
Spielen genetische und soziale Faktoren eine Rolle?
Das „Sucht-Gen“ ist wissenschaftlich bisher nicht gefunden worden. Insofern stehen soziale Faktoren im Vordergrund: Wie und zu welchem Zeitpunkt wird der Umgang mit Suchtmitteln in der Familie erlernt? Gibt es einen verantwortungsvollen Umgang oder wird eher zur Seite geschaut? Welche Wirkung und Funktion haben Suchtmittel bei der Bewältigung von Stress im Alltag?
Wie kann man Risiken frühzeitig entgegenwirken?
Wichtig ist, den eigenen Konsum kritisch zu überprüfen und dauerhaft im Auge zu behalten. Die Frage an sich selbst wäre: Erfüllt das Suchtmittel eine Funktion, die ich benötige, um z.B. mit unangenehmen Gefühlen von Wut, Ärger und Trauer umzugehen? Oder geht es andersherum um die Funktion des Suchtmittels, das Miteinander zu erleichtern für Feiern, sich auszutauschen, sexuelle Kontakte zu haben? Bin ich anfällig für den Konsum solcher Substanzen?
In Bezug auf den Konsum von illegalisierten Drogen kann es hilfreich und sinnvoll sein, sich über Nutzen und Risiken der Wirkungen und Nebenwirkungen zu informieren. Darüber können Konsument*innen eigenverantwortlich eine Konsumkompetenz schaffen im Sinne einer sicheren Nutzung („Safer Use“). Dies umfasst Nikotin und Alkohol als legal verfügbare Substanzen, aber auch Partydrogen, oder suchterzeugende Medikamente (Schmerzmittel, Schlaftabletten), die ärztlich oft viel zu leichtfertig verordnet werden.
Wie verläuft ein typischer Entzugsprozess?
Hat sich eine Abhängigkeit entwickelt von einem oder mehreren Suchtmitteln und entscheidet sich die Person ihren Konsum zu beenden, kann es bei einigen Substanzen zu Absetzphänomenen bzw. Entzugssymptomen kommen. Diese umfassen psychische und manchmal auch körperliche Entzugssymptome: Gefühle von Unruhe, Getriebenheit, Reizbarkeit und Ängste können verstärkt werden durch Zittern, starkes Schwitzen und Erhöhung des Blutdrucks und der Herzfrequenz. Der Entzug von Alkohol, Opiaten und Beruhigungsmitteln (Benzodiazepine) ist körperlich anstrengend. Manchmal kommt es zu Komplikationen, wie einem epileptischen Anfall. Deswegen sollten diese Entzüge unbedingt ärztlich begleitet werden durch eine medikamentöse Unterstützung auf einer Entgiftungsstation einer psychiatrischen Abteilung. Dort wird auch eine weiterführende Unterstützung wie z.B. eine Entwöhnungstherapie organisiert und vermittelt.
Gibt es Unterschiede bei der Entwöhnung von verschiedenen Substanzen?
Unterschiedliche Konsument*innen wählen individuell unterschiedliche Substanzen, die jeweils die gewünschte Wirkung erzielen. Jede Substanz hat jedoch auch unterschiedliche Schädigungsmuster, die manchmal mehr im körperlichen Bereich zu suchen sind (z.B. Leberzirrhose), häufiger jedoch im psychischen oder sozialen Bereich. Die Entwöhnungstherapie hat daher einen ganzheitlichen Behandlungsansatz (bio-psychosozial) in allen Lebensbereichen. Dies gelingt recht zuverlässig in der Abstinenz. Diese jedoch dauerhaft aufrecht zu erhalten, ist ein hartes Stück Arbeit, vor der ich immer wieder Respekt habe.
Von suchterzeugenden Medikamenten wie Benzodiazepinen oder Opioiden wegzukommen ist augenscheinlich schwierig. Letzteres zieht nicht selten eine Substitutionsbehandlung nach sich, die Beschaffungskriminalität oder Drogentot durch verunreinigte Suchtstoffe bzw. Spritzenbestecke wirkungsvoll verhindert. Wir bieten eine substitutionsgestützte Entwöhnungstherapie an und unterstützen Menschen, die aus der Substitution aussteigen wollen. Nicht selten sind dafür eine wiederholte Entgiftung und eine Entwöhnungstherapie (Rehabilitation) erforderlich.

Es geht darum, Hinzusehen. Eigene Sorgen und Gedanken ansprechen, damit der „unsichtbare Elefant im Raum“ sichtbar wird. Also problematische Konsummuster offen ansprechen, schließlich weiß die betreffende Person am allerbesten, was sie konsumiert
Gibt es Suchtmittel oder Abhängigkeiten, die derzeit besonders verbreitet sind?
Gesellschaftlich sehen wir derzeit eine Zunahme des Konsums bei den leistungssteigernden Substanzen wie Kokain und Amphetaminen. Diese sind nicht nur nachgefragt als Partydrogen, sondern halten Einzug in den Alltag, um Schritt halten zu können mit den steigenden Anforderungen einer rastlos drehenden Welt. Leider sehen wir seit 2015, dass der Schwarzmarkt überschwemmt wird mit günstigem Kokain und Crack, sodass sich die Verfügbarkeit drastisch erhöht hat, nicht zuletzt über Drogentaxis.
Was können Angehörige und das Umfeld tun?
Zunächst geht es darum, hin- und nicht wegzugucken. Eigene Sorgen und Gedanken ansprechen, damit der „unsichtbare Elefant im Raum“ sichtbar wird. Also problematische Konsummuster offen ansprechen, schließlich weiß die betreffende Person am allerbesten, was sie konsumiert. Man sollte sich jedoch nicht entmutigen lassen, dass lediglich ein Gespräch nicht alles löst. Es braucht eine freundliche Beharrlichkeit in der Ansprache und Unterstützung, da es ein individueller Prozess ist, für sich selbst eine Änderung zu wünschen und herbeizuführen. Letztlich geht es um die Unterstützung und Anregung, dass Betroffene sich selbst helfen, indem sie Hilfe von außen überhaupt zulassen.
Es ist schwer, Beratungstermine zu bekommen. Was raten Sie Betroffenen in akuter Not?
Falls es in professionellen Einrichtungen Engpässe gibt und Wartezeiten entstehen, bieten Selbsthilfegruppen im jeweiligen Kiez eine empfehlenswerte, niedrigschwellige und kostenlose Hilfe. Jedes Bundesland hat eine Landesstelle für Suchtfragen, dort sind viele Selbsthilfegruppen mit Adresse und Zeiten hinterlegt. Die meisten Gruppen erlauben auch Betroffenen den Zutritt, die noch konsumieren. So können sie von der Gemeinschaft mit Menschen profitieren, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
Kontakt
Entwöhnungstherapie – Hartmut-Spittler-Fachklinik
im Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum
Rubensstraße 125
Haus 30 , 5. OG
12157 Berlin Schöneberg
E-Mail: entwoehnung@vivantes.de