Organspende: Wenn ich sterbe, kann ich jemanden retten
Aktuell ist die Zahl der Organspenden in Berlin und unserer gesamten Region im Nordosten Deutschlands stark zurückgegangen – laut der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) bis Mai 2022 gab es rund 22 Prozent weniger gespendete Organe im Vergleich zum Vorjahr.
Warum gehen die Organspenden zurück?
Die Medizinerin Dr. Kati Jordan ist Leitende Oberärztin der Klinik für Anästhesie, operative Intensivmedizin und Schmerztherapie und leitet die operativ-interdisziplinäre Intensivmedizin am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum in Schöneberg. Darüber hinaus ist sie selbst auch die Transplantationsbeauftragte am Schöneberger Krankenhaus AVK. Im Interview erklärt Frau Dr. Jordan, woran es vielleicht liegen könnte, dass die Organspenden zurückgehen und ob das mit der Pandemie zu tun hat.
Frau Dr. Jordan, Sie sind nicht nur Gesamtkoordinatorin für Organspende bei Vivantes, sondern auch selbst Transplantationsbeauftragte. Als Transplantationsbeauftragte reden Sie mit Betroffenen und Angehörigen über eine mögliche Organspende – in einer absoluten Ausnahmesituation. Wie können wir uns diese Gespräche vorstellen? Ist das sehr emotional?
Dr. Kati Jordan: "Bei Vivantes sind es – wie an wahrscheinlich den meisten Kliniken in Deutschland - ausnahmslos erfahrene Intensivmediziner*innen, die in den Kliniken Transplantationsbeauftragte sind. Als Intensivmedizinerinnen und -mediziner sind wir natürlich erfahren in den wirklich schwierigen Gesprächen mit den Angehörigen von schwerst erkrankten Patientinnen und Patienten oder Sterbenden. Allerdings trifft es das natürlich: Die Angehörigen sind in einer absoluten Ausnahmesituation, sie verlieren vielleicht ihren liebsten Menschen. Dann in dieser Situation eventuell das Thema Organspende anzusprechen, ist oft schwer und verlangt viel Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl. Das braucht Ruhe und Zeit."
"Ich erinnere mich an meinen letzten Fall, wo es ein unglaublicher Trost für die Mutter meiner Patientin war, dass es uns gelungen ist, die Organe ihrer Tochter zu spenden."
Werden Sie auch mal von Angehörigen aktiv auf das Thema angesprochen?
Dr. Kati Jordan: "Ja genau, nicht selten ist es auch so, dass Angehörige das Thema selbst ansprechen, z.B. weil sie zu Lebzeiten mit ihren Angehörigen darüber gesprochen haben oder weil sie wissen, es wurde ein Ausweis ausgefüllt oder eine Patientenverfügung. Ich erinnere mich an meinen letzten Fall, wo es ein unglaublicher Trost für die Mutter meiner Patientin war, dass es uns gelungen ist, die Organe ihrer Tochter zu spenden. Diese Menschen, die diesen Weg mit uns gehen, haben mich jedesmal wirklich beeindruckt. Ich habe allergrößten Respekt vor den Angehörigen und vor den Spender*innen. Also: ja, es ist emotional, sehr sogar, aber das gehört für mich auf der Intensivstation dazu: Leben und sterben, lachen und weinen und geben und nehmen."
Warum setzen Sie sich persönlich so sehr für Organspenden ein?
Dr. Kati Jordan: "Für mich war schon als Jugendliche klar, dass ich einen Organspendeausweis trage. Als Intensivmedizinerin sehe ich es jeden Tag: das Leben ist endlich und egal wie jung oder alt wir sind: es kann jeden Tag plötzlich vorbei sein. Wie unerträglich ist der Gedanke, einen Angehörigen oder guten Freund zu verlieren. Aber wie tröstlich für mich, wenn ich sterbe, wenn meine Organe noch jemandem das Leben retten können! In den meisten Fällen sind es mehrere Menschen, denen man ein Leben schenken kann - Wahnsinn! Ich kann ja nichts mehr mit den Organen anfangen, wenn ich tot bin. Darum: Don´t take your organs to heaven – heaven knows we need them here."
406 Menschen aus Berlin warten auf ein lebensrettendes Organ
Anfang des Jahres 2022 standen 406 Berlinerinnen und Berliner auf der Warteliste für ein lebensrettendes Spenderorgan. Frau Dr. Jordan, wie sieht die Organspende-Situation derzeit aus?
Dr. Kati Jordan: "Die Zahl der Organspender*innen in Deutschland ist leider seit jeher deutlich zu niedrig, um allen Patientinnen und Patienten, die auf der Warteliste dringend auf ein Organ warten, zu helfen. Daher versterben viele Menschen, während sie auf ein neues Organ warten. 2021 zum Beispiel sind 826 Menschen in Deutschland verstorben, weil kein Spenderorgan rechtzeitig zur Verfügung stand. Am 1. Januar 2022 standen in Deutschland 8458 Patient*innen auf der Warteliste, aber nur 3260 Organe konnten transplantiert werden. Es besteht also dauerhaft ein Organmangel, wenn man das so sagen darf.
2022 kam es nun – ziemlich unerwartet – darüber hinaus nochmals zum Einbruch der Organspendezahlen: Laut DSO fielen die Zahlen im Vergleich zum ersten Halbjahr 2021 nochmals um 17,1 % ab. Leider merken wir dies auch bei Vivantes: während wir 2020 und 2021 noch acht Organspendeprozesse im ersten Halbjahr bei Vivantes durchführten, waren es 2022 gerade mal drei. Das ist natürlich dramatisch für die Menschen auf der Warteliste."
Auch manche Covid-positive Menschen können jetzt Organe spenden
In der Pandemie haben sich die Intensivstationen auf Covid-19-Patientinnen und –Patienten konzentriert. Hatte oder hat die Pandemie Auswirkungen die Organspende?
Dr. Kati Jordan: "In den anderen europäischen Ländern hat man direkt schon 2020 und 2021 im Bereich Organspende die Auswirkungen gespürt: In Spanien gingen die Zahlen im Frühjahr auf fast ein Viertel der früheren Aktivität zurück, in Italien wurde zeitweise ein 30-prozentiger Rückgang verzeichnet. Im Bereich Lebendspende hat man hier auch in Deutschland bereits einen gewissen Effekt gesehen. Ansonsten waren wir in Deutschland bis Jahresende allerdings sehr positiv, da wir dachten, dass es uns gelungen ist, die Zahlen relativ stabil über die Pandemie zu halten. Wie gesagt sehen wir nun aber in 2022 den Effekt, der sich nur teilweise darüber erklärt, dass es natürlich initial noch so war, dass Covid-19-positive Personen von der Spende ausgenommen waren, was jetzt mittlerweile in ausgewählten Fällen möglich ist. Dazu hat die Bundesärztekammer im April 2022 definierte Empfehlungen herausgegeben."
Gibt es andere Gründe?
Dr. Kati Jordan: "Ja. Darüber hinaus herrscht in Deutschland ein ausgeprägter Mangel an Pflegepersonal für die Intensivstationen, so dass es auch zu einer deutlichen Reduktion der Intenisvkapazitäten insgesamt gekommen ist. Möglicherweise kann auch das eine gewisse Rolle spielen.
Das größte Thema bleibt natürlich weiterhin die Spendebereitschaft in Deutschland: mit 11,2 Organspender*innen je Million Einwohner in Deutschland im Vergleich zu zum Beispiel. 37,9 Organspender*innen je Million Einwohnerinnen und Einwohnern in Spanien – nun da bleibt noch Einiges zu tun in Deutschland, denke ich. Es kann ja jede und jeden von uns treffen, auch ich kann eine Nierenerkrankung bekommen und plötzlich brauche ich dann eine neue Niere - darum sollte sich doch auch jede und jederr Gedanken machen: Was würde ich wollen, wenn…"
Kultureller Wandel: Stolz sein auf Spendenbereitschaft
Was denken Sie: Wie könnte man - auch in Krankenhäusern - die Bereitschaft zur Organspende erhöhen? Brauchen wir eine Art „Kultur der Organspende“?
Dr. Kati Jordan: "Ich denke, das trifft den Nagel auf den Kopf. Schauen wir etwa einmal nach Großbritannien: Dort läuft man in eine Klinik und überall prangen riesige Banner mit „Stolz dabei zu helfen“, „Sein auch Sie ein Teil“ usw., die Spender*innen werden als „Helden“ verehrt und ihre Bilder werden in den Kliniken ausgehängt und so weiter. Wie machen wir es in Deutschland? Wir verstecken das Thema beinahe. Wie soll es da auch in die Köpfe der Menschen kommen? Wie sollen die Jugendlichen begreifen, dass das Thema zum Leben dazu gehört? Hier muss quasi ein kultureller Wandel stattfinden, wenn wir das Thema wirklich anpacken und den Menschen auf der Warteliste wirklich helfen wollen."
Wer kommt als Spender*in in Frage?
Grundsätzlich kommt fast jede*r als Spender*in in Frage – jedoch besitzen nur rund 32 Prozent der Deutschen einen Organspendeausweis. Wenn jemand plötzlich verstirbt und vorher keinen Organspendeausweis ausgefüllt hat, müssen sich Angehörige in dieser tragischen und hochemotionalen Situation mit dieser Frage auseinandersetzen. Die Angehörigen sind verständlicherweise in dieser Situation meist überfordert oder trauen sich eine solche Entscheidung nicht zu.
Die Mitarbeiter*innen der Intensivstationen von Vivantes sind für das Thema Organspende sensibilisiert und sprechen dann mit den Angehörigen.
Nur wenn die Patientin oder der Patient selbst im Voraus schriftlich zugestimmt hat und/ oder die Angehörigen einverstanden sind, wenn der Patient bzw. die Patientin einen vollständig irreversiblen Ausfall der gesamtem Hirnfunktion haben und keine weiteren Erkrankungen gegen eine Transplantation sprechen, können Organe dann gespendet werden.
So ist die Organspende bei Vivantes organisiert
An jedem Krankenhausstandort von Vivantes gibt es mindestens einen Transplantationsbeauftragte*n. Sie begleiten den gesamten Prozess und arbeiten eng mit allen Beteiligten zusammen. Vor allem aber sind sie enge Begleiter*innen für die Angehörigen in dieser schweren Zeit und vielleicht auch noch danach. Die Transplantationsbeauftragten arbeiten dann eng mit der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) zusammen, die die Organentnahmen in Deutschland koordiniert. Dorthin wird gemeldet, wenn man in den Kliniken den „Hirntod“ einer Patientin oder eines Patienten festgestellt hat. Die qualifizierten Mitarbeiter*innen der DSO koordinieren dann gemeinsam mit der Klinik vor Ort die Organentnahme.
Die Vivantes Kliniken gehören zu den sogenannten Entnahmekrankenhäusern – das bedeutet, hier können Organe gespendet werden. Transplantiert werden Organe dort jedoch nicht, das passiert in speziellen Transplantationszentren. Bei Vivantes gibt es acht von berlinweit 40 sogenannten Entnahmekrankenhäusern, bundesweit sind es 1229.
Links
Mehr zur Organspende bei Vivantes
Zur Deutschen Stiftung Organspende
DSO-Jahresbericht „Organspende und Transplantation in Deutschland 2021“