Seelische Gesundheit und Obdachlosigkeit in Neukölln
Interview mit Dr. Ingrid Munk zum Thema Obdachlosigkeit und seelische Gesundheit
Wer keine eigene Wohnung hat oder auf der Straße lebt, leidet oft an psychischen Erkrankungen. Dr. Ingrid Munk, psychiatrische Chefärztin am Vivantes Klinikum Neukölln, berichtet, wie viele ihrer Patientinnen und Patienten dies betrifft und wie die Klinik ihnen hilft. Nach der Entlassung aus der Klinik können obdachlose Patientinnen und Patienten im Neuköllner Projekt „Wohnenplus“ unterkommen.
Frau Dr. Munk, haben Obdachlose häufiger psychische Erkrankungen als andere?
Dr. Ingrid Munk: Man geht davon aus, dass mehr als zwei Drittel aller Menschen ohne Dach über dem Kopf unter psychischen Erkrankungen leiden. Wohnungs- oder gar obdachlos zu sein, ist oft schwer zu verkraften. Haben Sie sich einmal vorgestellt, was es bedeutet, auf der Straße zu leben? Nicht nur im Winter der Kälte ausgesetzt zu sein, sondern im Sommer der Hitze, keinen Zugang zu Wasser zu haben, sich nicht waschen zu können, sich vielleicht ständig bedroht zu fühlen, sich schutzlos zu fühlen. Die Kleidung nicht wechseln zu können, weil man keine andere saubere hat oder weil man überhaupt keine andere hat. Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit und seelische Krisen bedingen sich gegenseitig, alleine kommt man da oft nicht wieder raus.
Sind viele der Patientinnen und Patienten, die in der psychiatrischen Klinik behandelt werden, obdachlos?
Munk: Ja, etwa jeder fünfte stationär Aufgenommene hat keine eigene Wohnung. Im Schnitt sind rund 12 Prozent obdachlos und mehr als sieben Prozent wohnungslos, also insgesamt mehr als 19 Prozent – wobei es geringfügige Schwankungen zwischen den Stichtagen gibt. Diese Zahlen erheben wir in den letzten Jahren an zwei Stichtagen im Jahr, um für uns ein klareres Bild zu erhalten.
Man geht davon aus, dass mehr als zwei Drittel aller Menschen ohne Dach über dem Kopf unter psychischen Erkrankungen leiden. Wohnungs- oder gar obdachlos zu sein, ist oft schwer zu verkraften.
Obdachlos oder wohnungslos – was ist der Unterschied?
Munk: Grundsätzlich muss man laut Definition unterscheiden zwischen obdachlos und wohnungslos: Wer obdachlos ist, lebt auf der Straße. Wer in einer Obdachloseneinrichtung oder bei Verwandten oder Freunden untergekommen ist, gilt als „wohnungslos“.
Welche psychischen Erkrankungen sind bei obdachlosen oder wohnungslosen Menschen am häufigsten?
Munk: Häufig sind die betroffenen Menschen suchtkrank oder leiden unter psychotischen Störungen. Nicht selten sind auch Menschen mit Borderline-Störungen oder Depressionen darunter.
Fragen Sie und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter denn jede und jeden auf der Station gezielt, ob sie eine Wohnung haben oder nicht?
Munk: Natürlich gehört die Frage nach der Wohnsituation zur Erfassung der sozialen Situation jedes Einzelnen dazu. Wir verstehen uns als sozialpsychiatrisch arbeitende Klinik. Wohnen, Arbeiten, Freizeit, soziale Inklusion, Teilhabe und Wiedereingliederung in die Gesellschaft sind wichtige Elemente der Behandlung. Ob jemand ein Zuhause hat und wer die wichtigsten Bezugspersonen sind, ist wichtig für uns zu wissen, um die soziale Situation einschätzen zu können.
Erzählen es die Patientinnen und Patienten, wenn sie keine Wohnung haben oder wird hier auch mal geflunkert?
Munk: Ich finde es verständlich, dass es manchen Menschen schwerfällt, zuzugeben, dass sie alles verloren haben. Es gibt auch den Fall, dass jemand bei der stationären Aufnahme eine Adresse angibt, die gar nicht stimmt.
Im Berliner Sozialstrukturatlas nimmt Neukölln Platz 12 von 12 Berliner Bezirken ein, ist demnach also der ärmste Bezirk. Wohnungsmangel und die Folgen sind allerdings nicht nur in Brennpunktbezirken ein Thema, sondern in Berlin und ganz Deutschland.
Nach der Therapie in der Klinik – wie geht es dann weiter?
Munk: Wir können obdachlosen Menschen das Angebot machen, einen Platz bei „Wohnenplus“ zu vermitteln. Es handelt sich um betreute Wohnplätze mit Einzelzimmern und psychiatrischer Betreuung – allerdings das ist zeitlich begrenzt auf ein halbes Jahr, aber das kann auch in Ausnahmefällen verlängert werden. Das Projekt haben wir als Klinik haben gemeinsam mit dem Bezirksstadtrat für Gesundheit und Soziales Falko Liecke, einem Träger der Wohlfahrtspflege, der GEBEWO – Soziale Dienste – Berlin und dem Erstaufnahmeheim „Die Teupe“ ein Angebot auf die Beine gestellt, nachdem wir als Klinik die Problematik in Neuköllner Psychiatriebeirat angesprochen hatten.
Wie viele Plätze gibt es in dem Projekt und sind diese ausreichend?
Munk: Im Juli 2016 startete das Kooperationsprojekt mit zunächst fünf Plätzen in der Obdachloseneinrichtung Teupitzer Strasse. Im Januar 2018 konnte die Kapazität dort um drei weitere Plätze erweitert werden und im Januar 2019 kamen noch fünf Plätze in der Obdachloseneinrichtung Schmalenbachstrasse hinzu. Es sind allerdings nicht immer Plätze frei. Für Januar 2020 sind weitere Plätze in der Obdachloseneinrichtung am Wildmeisterdamm geplant.
Wenn es nicht für alle Plätze gibt, müssen Sie auch Menschen aus der Klinik wieder auf die Straße entlassen?
Munk: Auch wenn es uns schwerfällt: Wir müssen das in Einzelfällen tun. Das ist eigentlich nicht unser Ziel. Wir wollen den Menschen zumindest Angebote machen. Perspektiven aufzeigen. Es gibt im Übrigen auch Menschen, die keine Hilfe von uns annehmen wollen. Und wenn es keine akute Selbst- oder Fremdgefährdung gibt, können wir auch keinem vorschreiben, in der Klinik zu bleiben.
Sind die Wohnungsprobleme in Neukölln größer als anderswo?
Munk: Im Berliner Sozialstrukturatlas nimmt Neukölln Platz 12 von 12 Berliner Bezirken ein, ist demnach also der ärmste Bezirk. Wohnungsmangel und die Folgen sind allerdings nicht nur in Brennpunktbezirken ein Thema, sondern in Berlin und ganz Deutschland. Die Fakten sind allerdings dürftig. Es gibt weder für Berlin noch für die Bundesrepublik eine offizielle Statistik. Schätzungen für Berlin gehen von etwa 10.000 Obdachlosen und 50.000 Wohnungslosen aus. Wohnungs- und Obdachlosigkeit sind aber ein zunehmend ein wichtiges gesellschaftliches Thema, denke ich.
Schon durch eine drohende oder erfolgte Kündigung des Mietvertrages können Menschen in eine psychische Krise geraten. Wenn sie dann nicht mehr weiter wissen, verzweifeln einige und manche kommen zu uns in die Klinik.
Wie verlieren Menschen ihre Wohnung?
Munk: Häufige Ursachen sind steigende Mieten, der Mangel an Wohnungen und die zunehmende Armut. Wenn es zu Mietschulden kommt, sind diese oftmals Grund für Kündigungen. Eine neue Wohnung zu finden ist dann oft schwierig. Erst recht, wenn man keine Arbeit hat. Einem Wohnungsverlust gehen oft Jobverlust, Trennungen, Gewalterfahrungen oder eben auch psychische Krisen voraus. Viele fühlen sich dann hilflos, manche resignieren.
Was ist mit Menschen, denen eine Wohnungskündigung droht?
Munk: Schon durch eine drohende oder erfolgte Kündigung des Mietvertrages können Menschen in eine psychische Krise geraten. Wenn sie dann nicht mehr weiter wissen, verzweifeln einige und manche kommen zu uns in die Klinik. Diese Menschen erfassen unsere Zufallserhebungen zwar nicht, aber auch das erleben wir in den letzten Jahren häufig.
Wie kann denn die Klinik helfen, wenn jemand droht seine Wohnung zu verlieren?
Munk: Wenn wir von Patienten erfahren, dass eine Kündigung droht oder dass es Unst9immiogkeiten im Wohnumfeld gibt, dann bemühen uns zu gucken, wie wir konkret helfen können. Dann machen wir zum Beispiel ein Alltagstraining. Das heißt, wir suchen zusammen mit dem Betroffenen die Wohnung und das Umfeld auf und schauen uns das an: Wie sind die Beziehungen zu den Nachbarn, wo sind die Probleme, gab es Vorfälle mit Lärmbelästigung oder ähnliches? Manchmal hilft es dann ja auch, sich zu entschuldigen. Ziel ist es, wieder einen normalen Alltag führen zu können.
Die Klinik ist verantwortlich für die medizinisch-psychiatrische Versorgung der rund 315.000 Einwohner des Bezirkes. Jede Neuköllnerin und jeder Neuköllner, der einer psychiatrischen Behandlung bedarf, kann hier wohnortnah behandelt werden. Die ambulanten, teil- und vollstationären sowie die stationsäquivalenten Einrichtungen der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Vivantes Klinikum Neukölln diagnostizieren und behandeln das gesamte Spektrum psychischer Erkrankungen. Schwerpunkte sind akute Belastungsreaktionen, seelische Krisen, depressive, bipolare und psychotische Störungen sowie Abhängigkeits-, Angst- und Zwangserkrankungen. Zu den Hilfsangeboten zählt neben der voll- oder teilstationären Behandlung auch ein ambulantes Angebot sowie stationsäquivalente Behandlung mit Home Treatment.