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Welttag der Suizidprävention: „Wer darüber spricht, der tut es nicht“?

Warum der Welttag der Suizidprävention am 10. September ein guter Anlass ist, vermeintliches Wissen zum Thema Suizid zu hinterfragen, erklärt Prof. Dr. Peter Bräunig, Chefarzt und Leiter des Departments für Seelische Gesundheit am Vivantes Humboldt-Klinikum im Interview.

Um die 10.000 Menschen begehen in Deutschland jährlich Suizid. Damit sterben auf diese Weise deutlich mehr Menschen als etwa durch einen Unfalltod (rund 3.000) oder den Konsum illegaler Drogen (rund 1.000). Im Jahr 2003 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO erstmals den Welttag der Suizidprävention ausgerufen. Seitdem steht der 10. September jedes Jahr wieder für eine große Frage: Wie kann der freiwillige Tod tausender Menschen künftig noch besser verhindert werden? Als Chefarzt und Leiter des Departments für Seelische Gesundheit am Vivantes Humboldt-Klinikum hat Prof. Dr. Peter Bräunig einen wichtigen Teil der Antwort gefunden: „Ein wesentlicher Faktor ist Aufklärung“.

Herr Prof. Bräunig, als Leiter der psychiatrischen Klinik am Vivantes Humboldt-Klinikum haben Sie tagtäglich mit psychisch teilweise schwer erkrankten und auch suizidalen Patient*innen zu tun. Was bedeutet vor diesem Hintergrund der Welttag der Suizidprävention für Sie ganz persönlich?

Prof. Dr. Peter Bräunig: Ehrlich gesagt eine ganze Menge – und das auch ganz unabhängig von meiner beruflichen Erfahrung oder Funktion. Denn eines ist klar: Egal, in welcher Rolle wir stecken – einen Menschen durch einen Suizid zu verlieren, gehört mit Sicherheit zu den radikalsten und schmerzlichsten Erfahrungen, die wir in unserem Leben machen können. Dazu kommt noch die Stigmatisierung und Tabuisierung des Themas. Hier hat sich in den letzten Jahren zwar schon einiges getan – am Ziel ist unsere Gesellschaft aber noch lange nicht.

Was muss in Ihren Augen geschehen, um diesem Ziel näher zu kommen?

Bräunig: Ein wesentlicher Faktor ist Aufklärung. Noch immer kursieren diverse Mythen rund um das Thema Suizid, die sehr viele Menschen verinnerlicht haben. Die Aussage „Wer über seinen Selbstmord spricht, tut es nicht“ ist beispielsweise ein weitläufig „erlerntes“ Wissen –– das jedoch wissenschaftlichen Erkenntnissen und praktischen Erfahrungen nicht standhält. Denn tatsächlich kündigt die Mehrzahl der Menschen ihr Vorhaben an, und sei es auch nur verklausuliert. Im Vergleich zum lange gehegten suizidalen Plan wird der Einfluss der psychologischen Konstellation des Moments und kurzschlüssiges Handeln unter dem Eindruck von Seelenschmerz und Angst außerdem bei weitem unterschätzt. Die Mehrzahl der Menschen, die einen versuchten Suizid überlebten, sind froh darüber. Umso wichtiger ist es, Anzeichen für einen Suizid rechtzeitig zu erkennen.

Bei welchen Anzeichen sollte das Umfeld hellhörig werden?

Bräunig: Es gibt Situationen im Leben, die für alle Menschen schwer zu bewältigen sind – Trennungen, Einsamkeit, der Tod eines geliebten Menschen, Kränkungen, Arbeitsplatzverlust und damit verbundene finanzielle Sorgen und Sinnkrisen, körperliche oder seelische Schmerzen, Ängste, Scham.
Auch das Gefühl nicht verstanden zu werden oder zu glauben, einen anderen Menschen schwer zu belasten oder enttäuscht zu haben, nagt an uns allen. Die Frage ist, wie der oder die Einzelne damit umgeht. Werden aktiv Hilfsangebote gesucht, etwa eine Psychotherapie oder eine Selbsthilfegruppe? Hat ein Mensch ein soziales Umfeld, das auch in schwierigen Lebenssituationen unterstützend zur Seite steht? Wer den Eindruck hat, dass bei einem Menschen im eigenen Umfeld all dies nicht der Fall ist, sollte hellhörig werden. 

Wie sollte ich mich verhalten, wenn ich den Eindruck habe, jemand könnte suizidgefährdet sein?

Bräunig: Die wichtigste Regel ist: Sprechen Sie den Menschen an. Erkundigen Sie sich nach der Gefühlslage, fragen Sie, ob es Menschen gibt, die ihn oder sie in der jeweiligen Krise begleiten. Bieten Sie sich als Gesprächspartner an. Machen Sie auf Hilfsangebote aufmerksam und die Möglichkeit, bei akuter Gefahr eine Klinik aufzusuchen. Natürlich kommt es hier stark darauf an, wie nahe man sich steht. Klar ist aber: Totschweigen hilft nicht.

Krankenhäuser sind ein wichtiger Bestandteil des Präventionsnetzwerks

Apropos Klinik: Welche Rolle spielen Krankenhäuser bei der Suizidprävention? 

Bräunig: Zum einen spielen natürlich unsere Rettungsstellen eine bedeutende Rolle. Das Vivantes Humboldt-Klinikum arbeitet aber auch sehr eng und gut mit dem Berliner Krisendienst zusammen. Dort finden Menschen unmittelbar Hilfe und Unterstützung. Jeden Tag nehmen wir Patient*innen auf, die nach einer Beratung beim Krisendienst gemerkt haben, dass sie eine weiterführende psychotherapeutische bzw. psychiatrische Versorgung benötigen. Für diese Menschen sind wir da. Insofern sind Krankenhäuser ein wichtiger Bestandteil des Präventionsnetzwerks. Abgesehen davon ist unser Klinikum deutschlandweit eine von wenigen Kliniken, die ein spezielles Therapieprogramm für Menschen nach Suizidversuchen aufgelegt haben. In unserer Klinik haben im Durchschnitt sieben Prozent der aufgenommenen Patient*innen einen Suizidversuch hinter sich.

Anhand welcher Kriterien beurteilen Sie und Ihre Kolleg*innen, ob ein Patient/eine Patientin suizidgefährdet ist?

Bräunig: Grundlage der Risikobewertung ist die Untersuchung – Zuhören, die richtigen Fragen stellen: Gab es schon Suizidversuche? Befindet sich der Patient/die Patientin in einer persönlichen Krisensituation? Welche Rolle spielen Alkohol und/oder Drogen? Spielt Angst eine Rolle? Anhand dieser Fragen bekommen wir als Ärzt*innen und Therapeut*innen ein sehr gutes Gefühl dafür, ob ein Suizidrisiko vorliegt oder nicht. Hinzu kommt die Erhebung der Anamnese.  Unseren Ärzt*innen und Psycholog*innen stehen Interviewleitfäden und Checklisten für Risikofaktoren zur Verfügung, wenngleich schließlich Einfühlungsvermögen und ein Gespür für die jeweilige Situation eines Menschen eine enorme Bedeutung im Umgang mit suizidalen Menschen behalten.
In unserer Klinik werden daher akut suizidale Menschen von einer Pflegeperson und/oder Therapeuten 1:1 betreut. Die sprechende Medizin hat – neben einer gegebenenfalls darüber hinaus gehenden sorgfältigen medizinischen Behandlung –  höchsten Stellenwert.

Lassen Sie uns zum Schluss nochmal auf die „Überlebenden“ zurückkommen. Wie können Menschen damit fertig werden, dass sich ein Freund oder der Partner das Leben genommen hat?

Bräunig: Natürlich ist und bleibt das eine sehr belastende Situation. Die Suche der Hinterbliebenen nach Ursachen und Anlässen führt auf Grund der eigenen Perspektive von außen außerdem oft zu verkürzten Erklärungen und zusätzlich erschwerter Verarbeitung. Deshalb empfehle ich Personen, die einen solchen Schicksalsschlag erleben, mit verschiedenen Menschen Kontakt aufzunehmen, auch mit Fachleuten und mit Menschen, die den Suizid eines Angehörigen selbst verarbeiten mussten. Eine multiperspektivische Sicht auf den Suizid eines Menschen und der Respekt vor dem letzten Unerklärlichen kann Verständnis fördern und vor allem sehr entlasten.


Links und Infos:

Department für Seelische Gesundheit, Vivantes Humboldt-Klinikum

Allgemeiner Kontakt
Department für Seelische Gesundheit
(030) 130 12 2100
im Vivantes Humboldt-Klinikum
Am Nordgraben 2
EG Station 01
13509 Berlin-Reinickendorf

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