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Tabuthema Fehlgeburt

Für Schwangere ist es ein Albtraum: die Fehlgeburt, auch Abort genannt. Über das Thema, über das öffentlich häufig geschwiegen wird, und spricht Chefarzt Dr. Dietmar Schlembach vom Vivantes Klinikum Neukölln.

Schwangerschaft ohne Geburt - und was dann?

Das vorzeitige Ende einer Schwangerschaft ist ein traumatisches Erlebnis für viele Frauen und ihre Partner*innen. Schwangerschaften sind heute oft lange geplant, die Erwartungen, dass alles gut ausgeht, hoch.  Oft entwickeln sich schon in den ersten Wochen starke Gefühle für den Embryo im Bauch.  

Mithilfe der modernen Untersuchungsmethoden kann man schon ab der sechsten Woche auf dem Ultraschallgerät einen Herzschlag erkennen, so baut sich schnell eine Bindung auf. 44 Fehlgeburten pro Minute weltweit, also rund 23 Millionen pro Jahr –, berechnete im April 2021 das Fachmagazin „The Lancet“ und verwies gleichzeitig auf eine hohe Dunkelziffer. Denn in vielen Fällen endet eine Schwangerschaft, bevor sie entdeckt wird, weil sich das Ei nicht einnistet. Oder die Fehlgeburt wird nicht gemeldet.

Körperliche und seelische Folgen

Wissenschaftler*innen kritisieren: Dem Thema komme zu wenig Beachtung zu, es werde heruntergespielt, nicht ausreichend ernst genommen. Für Ärzt*innen gehöre eine Fehlgeburt zum Alltag, aber viele betroffene Frauen und ihre Partner*innen wünschten sich eine individuelle, strukturelle Fürsorge seitens des Gesundheitssystems, die sowohl die körperlichen Folgen als auch die seelischen Auswirkungen berücksichtigt – besonders mit Blick auf weitere zukünftige Schwangerschaften. Sie sorgen sich, ob sie überhaupt ein Kind bekommen können, und plagen sich mit Selbstzweifeln und Schuldgefühlen. Trauer und Schmerz gelten nicht nur dem verlorenen Embryo, sondern auch einer Zukunft, den Hoffnungen und Träumen, die zerstört sein könnten.

Interview: Wie Betroffenen geholfen werden kann

Privatdozent Dr. med. Dietmar Schlembach ist Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, Spezielle Geburtshilfe und Perinatalmedizin, DEGUM III am Vivantes Klinikum Neukölln. Er spricht im Interview über Fehlgeburten, ihre möglichen Ursachen und eine allumfassende Behandlung und Betreuung, die den Betroffenen helfen kann.

Warum eine Schwangerschaft endet? Die Ursachen sind vielfältig, in 50 bis 70 Prozent der Fälle findet man auch keinen definitiven Grund.

Chefarzt der Klinik für Geburtsmedizin des Vivantes Klinikum NeuköllnPrivatdozent Dr. Dietmar Schlembach

Herr Dr. Schlembach, warum enden so viele Schwangerschaften vorzeitig?

Dr. Dietmar Schlembach: Die Ursachen sind vielfältig, in 50 bis 70 Prozent der Fälle findet man auch keinen definitiven Grund – wir Ärzt*innen nennen dies dann „idiopathisch“. Bei bis zu 70 Prozent der Frauen, insbesondere in höherem Alter, sind es genetische (chromosomale) Ursachen. Anatomische Faktoren, also Probleme oder Auffälligkeiten der Gebärmutter, können ein weiterer Grund sein, ebenso Infektionen wie die bakterielle Vaginose und andere Erreger sowie auch endokrine Faktoren, also hormonelle Störungen (Sexualhormone, Schilddrüse mit Über- oder Unterfunktion, Insulinresistenz) und immunologische Faktoren (etwa Autoimmunerkrankungen). Auch können Gerinnungsstörungen das Fehlgeburtsrisiko gering erhöhen. Darüber hinaus spielt die Psyche, insbesondere die erhöhte Stressbelastung bei wiederholten Aborten, eine Rolle.

Welche Rolle der Lifestyle spielt

Was kann noch die Ursache sein? Hilft es, gesünder zu leben?

Dr. Schlembach: Nicht vernachlässigen darf man die sogenannten Lifestyle-Faktoren: Stress, Über- oder Untergewicht, Nikotin-, Alkoholkonsum, viel Koffeingenuss und starke körperliche Aktivität sollten als Risikofaktoren ernst genommen werden. Durch Umstellung des Verhaltens lässt sich hier ein gewisser „präventiver“ Effekt erzielen.

Einmalige oder wiederholte Fehlgeburt?

Welche Diagnostik wenden Sie in der Regel bei Ihren  Patient*innen an?

Dr. Schlembach: Hier muss man unterscheiden: zwischen einer sporadischen Fehlgeburt, also einem erstmaligen Ereignis, und wiederholten Fehlgeburten, mehr als zwei bis drei. Prinzipiell wird eine Fehlgeburt durch Ultraschall (Durchmesser des Fruchtsackes, Größe des Embryos, fehlende Herzaktion) und Bestimmung des schwangerschaftsspezifischen Hormons ß-HCG (zu niedriger Wert oder inadäquater Anstieg bei wiederholten Messungen) diagnostiziert. Wiederholte Aborte machen eine intensivere Abklärung zur Ursachensuche nötig. Zu beachten ist, dass bei einer Frau mehrere Ursachen vorliegen können beziehungsweise bei wiederholten Aborten nicht zwangsweise immer nur eine einzige verantwortlich ist – eine zusätzliche Belastung für Betroffene.

Und wie sieht die Therapie aus?

Dr. Schlembach:Das therapeutische Vorgehen – zunächst abwarten, die medikamentöse Abortinduktion oder die sogenannte Ausschabung – hängt einerseits von der Schwangerschaftswoche, andererseits von der Symptomatik (etwa Blutung) ab. Gemeinsam mit den Frauen oder Paaren und abhängig von Symptomatik und Anamnese stimmen sich Ärzt*innen darüber ab. Dabei berücksichtigen sie auch, ob eventuell eine genetische Untersuchung der Fehlgeburt erfolgen soll.
 

Keine Frau sollte Schuldgefühle haben. In der ganzen Betreuungsphase sollte eventuellen Schuldgefühlen entgegengewirkt werden. Wir bieten unseren Patient*innen selbstverständlich ein Nachgespräch an.

Chefarzt der Klinik für Geburtsmedizin am Vivantes Klinikum NeuköllnPrivatdozent Dr. Dietmar Schlembach

Welche Symptome sind  typisch für einen Abort?

Dr. Schlembach: Blutung, Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen in unterschiedlicher Intensität sind vorherrschende Symptome.

Wie sehen aus Ihrer Sicht eine angemessene Behandlung und Betreuung aus, auch im Hinblick auf zukünftige Schwangerschaften?

Dr. Schlembach: Grundsätzlich sind eine empathische Betreuung sowie das Angebot der psychologischen Unterstützung wichtig. Eine Fehlgeburt stellt selten – außer bei extrem starker Blutung – einen medizinischen Notfall dar, sodass auch medizinisch notwendige Maßnahmen meist in Ruhe besprochen werden können. Die Frauen, Paare oder Familien sollten sich Zeit nehmen: für gemeinsame Trauer und Abschied. Nicht nur von ihrem Kind, auch von den mit seiner Ankunft verbundenen Träumen, Hoffnungen und Erwartungen. Das kann Tage, Wochen oder auch Monate dauern. Eine Bestattung ist abhängig vom Wunsch der Eltern, vom therapeutischen Vorgehen, dem Schwangerschaftsalter sowie dem Vorhandensein eines Embryos oder Fetus. Sie wirkt der Angst entgegen, das Kind könnte womöglich im „Klinikmüll“ entsorgt werden.

Haben viele Betroffene Schuldgefühle?

Dr. Schlembach: In der ganzen Betreuungsphase sollte eventuellen Schuldgefühlen entgegengewirkt werden. Wir bieten am Vivantes Klinikum Neukölln unseren Patient*innen selbstverständlich ein Nachgespräch an, zum Beispiel im zeitlichen Intervall und nach Eingang eventueller Untersuchungsbefunde. Ebenso eine Beratung über weitere sinnvolle Untersuchungen, insbesondere bei wiederholten Aborten – zur Ursachensuche und sich vielleicht daraus ergebenden sinnvollen therapeutischen Maßnahmen und deren Wirksamkeit. Im Hinblick auf eine neue Schwangerschaft gibt es keine allgemeingültige Empfehlung. Die Frau sollte körperliche und emotionale Aspekte einbeziehen. Erfahrungsgemäß hilft es, gemeinsam abzuwägen, wann man bereit ist, einem nächsten Kind Platz zu geben. Eine Begleitung in der Folgeschwangerschaft kann dabei helfen, mit den oftmals vorhandenen Ängsten umzugehen.
 

Mehr Informationen

Was ist eine Fehlgeburt?

Verstirbt der Embryo oder Fetus vor der 24. Schwangerschaftswoche (SW, berechnet nach der letzten Menstruation), spricht man von einer Fehlgeburt, einem Abort oder Abgang. Eine Fehlgeburt bis zur 12. SW wird als früher Abort, ab der 20. SW als Spätabort bezeichnet. Ab der 24. SW oder wenn das Kind mindestens 500 Gramm wiegt, hätte es mit hoher Wahrscheinlichkeit dank intensivmedizinischer Behandlungen als Frühgeburt überlebt. Verstirbt es nach diesem Zeitpunkt im Mutterleib, gilt es als Totgeburt.

Wie oft gibt es Fahlgeburten?

12 bis 24 Prozent der schwangeren Frauen haben eine Fehlgeburt, etwa jede sechste. Diese Zahlen gelten für  Frauen, bei denen die Monatsblutung ausblieb und deren Schwangerschaftstest positiv ausfiel.
Sie beziehen nicht die Frauen ein, die noch nicht wissen, dass sie schwanger sind. Der Anteil der Fehlgeburten ist daher noch höher. Schätzungen ergeben, dass bei unter 30-Jährigen rund die Hälfte der Eizellen abgehen, bei Frauen in höherem Alter mehr.
Ab der fünften Woche, dem Zeitpunkt, ab dem eine Schwangerschaft feststellbar ist, liegt die Rate der Fehlgeburten bei etwa 10 bis 15 Prozent. 80 Prozent der Aborte erfolgen vor der 12. Schwangerschaftswoche.

Welche Regelungen gelten für Fehlgeburten?

Informationen zu rechtlichen Hintergründen bietet das Familienportal des Bundesfamilienministeriums.

 
 

Dieser Artikel ist auch im Vivantes Magazin Ausgabe 3-2021 erschienen.