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Geschlechterspezifische Medizin: Der große Unterschied

Lange Zeit behandelte die Medizin Frauen und Männer gleich. Heute weiß man, dass sie bei ein und derselben Krankheit unterschiedliche Symptome entwickeln können und viele Medikamente anders wirken. Über Gendermedizin im Klinikalltag berichten zwei Ärzt*innen von Vivantes.

Was gender in der Medizin bedeutet

Geschlechterspezifische oder Geschlechtersensible Medizin – so lässt sich der Begriff Gendermedizin übersetzen. Oftmals wird sie mit „Frauenmedizin“ gleichgesetzt, die sich allein auf die Belange von Frauen konzentriert und Männer nicht berücksichtigt. Das ist falsch, es zeigt aber, wie viele Zweifel dieser medizinischen Disziplin zum Teil immer noch entgegengebracht werden.

Das kann auch daran liegen: Das englische „Gender“ (Geschlecht) gibt das Anliegen dieser Forschungsrichtung nur ungenau wieder. Denn es geht nicht nur um das psychosoziale Geschlecht, also um das „Produkt“ aus gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren, aus Normen, Umwelteinflüssen sowie Verhaltensweisen und Geschlechterrollen. Es geht auch um das biologische Geschlecht, um die harten Fakten biologischer Unterschiede – im Englischen mit „Sex“ bezeichnet: die genetisch, hormonell und stoffwechselbedingt festgelegte Anatomie des menschlichen Körpers.
 

Auch bei seelischen Erkrankungen gibt es sehr eindeutige Unterschiede zwischen Männern und Frauen: der Umgang mit psychischen Symptomen, die Art der Symptome, die Krankheitsverläufe und die Bereitschaft, Hilfesysteme in Anspruch zu nehmen - und auch die Wirkung von Medikamenten.

Leiterin des Departments für seelische Gesundheit am Klinikum Spandau, Chefärztin der Vivantes Zentren für seelische Frauengesundheit in Spandau und im Humboldt-KlinikumProf. Dr. Stephanie Krüger

Welche Rolle spielt die Gendermedizin im medizinischen Alltag von Ärztinnen und Ärzten? Im Interview sprechen darüber Prof. Dr. Stephanie Krüger, Leiterin des Departments für seelische Gesundheit am Klinikum Spandau, Chefärztin der Vivantes Zentren für seelische Frauengesundheit in Spandau und im Humboldt-Klinikum, sowie Prof. Dr. Wolfgang Harth, Chefarzt in der Klinik für Dermatologie und Allergologie, Schwerpunkt Männergesundheit, im Vivantes Klinikum Spandau.
 

Frau Professorin Krüger, Herr Professor Harth, welche Erfahrungen machen Sie in Ihrer praktischen Arbeit mit Geschlechterspezifischer Medizin?

Prof. Dr. Stephanie Krüger: „Bei seelischen Erkrankungen gibt es sehr eindeutige Unterschiede zwischen Männern und Frauen: der Umgang mit psychischen Symptomen, die Art der Symptome, die Krankheitsverläufe und die Bereitschaft, Hilfesysteme in Anspruch zu nehmen. Auch reagieren Männer und Frauen unterschiedlich auf Psychopharmaka: Frauen benötigen oft niedrigere Dosen, verstoffwechseln aufgrund ihrer hormonellen Spezifika anders und entwickeln auch Nebenwirkungen, von denen Männer nicht betroffen sind. Da die Dosisempfehlungen aber auf den männlichen Körper zugeschnitten sind, kann es bei Frauen leicht zu einer Überdosierung kommen.“

Risiko Überdosierungen bei Frauen - Dosierung auf männlichen Körper zugeschnitten

Prof. Dr. Wolfgang Harth: „In diesem Jahr blicke ich auf mehr als 30 Jahre „Männersprechstunde“ (andrologische Sprechstunde) zurück. Anfänglich stand der unerfüllte Kinderwunsch im Mittelpunkt, mit männlicher Labordiagnostik zur Fruchtbarkeitsbeurteilung und empathischer Betreuung stark belasteter kinderloser Paare. Historisch wurde die Fruchtbarkeitsdiagnostik maßgeblich im Fachbereich der Dermatologie wissenschaftlich untersucht und entwickelt, in der Facharztweiterbildung Haut- und Geschlechtskrankheiten stellte sie eine Subspezialität dar. Seit 2006 ist die Andrologie eine Zusatzbezeichnung, die man nach entsprechender Weiterbildung und Prüfung durch die Landesärztekammer erwirbt. Kernthemen sind Fruchtbarkeits-, Hormonstörungen, Hodenunterfunktion, männliche Wechseljahrbeschwerden, Erektionsstörung und Verhütung."

"Die Männersprechstunde ist heute ein Querschnittsfach"

Harth: "In den letzten Jahren kamen vermehrt zahlreiche weitere Beschwerdekomplexe der Patienten hinzu: etwa Herz- und Gefäßerkrankungen, die weitere Erkrankungen nach sich ziehen, ernährungsmedizinische Beschwerden, biopsychosoziale Problemfelder bezüglich Versagensängsten, männlicher Rollenkonfusion bis hin zu ästhetischen Optimierungswünschen. Die Männersprechstunde ist daher heute ein breites Querschnittsfach.“
 

Können Sie konkrete Beispiele schildern?

Krüger: „Männer haben grundsätzlich einen anderen Zugang zu ihrer Gefühlswelt als Frauen. Sie sind es traditionell nicht so sehr gewohnt, über ihre Befindlichkeiten zu sprechen, Hilfe zu suchen, etwa wenn eine depressive Symptomatik auftritt oder sich eine Angststörung entwickelt. Um die eigentlichen psychischen Symptome zu überdecken, suchen sie häufiger Zuflucht in mehr Arbeit, mehr Sport, zeigen riskantes Verhalten im Straßenverkehr, werden aggressiv oder konsumieren zu viel Alkohol. Frauen leiden nicht, wie oft angenommen, häufiger an Depressionen, sondern sie suchen sich eher Hilfe. Dabei werden ihnen schneller Schlaf- und Beruhigungsmittel verschrieben – das sich daraus häufig entwickelnde Suchtproblem bleibt so oft lange unentdeckt.“

Harth: „Ein neuer Fokus in meiner Sprechstunde sind die Wechseljahre des Mannes. Typisch ist ein Patient zwischen 45 und 55 Jahren, mit verschlechtertem allgemeinem Wohlbefinden, Schlafstörungen, Abgeschlagenheit, Libidoverlust. Nach einem Gespräch, einer Untersuchung und erweitertem Check-up ist kein isolierter Hormonmangel festzustellen, sondern beispielsweise Diabetes, Übergewicht oder eine depressive Symptomatik. Also hilft kein Testosteron-Gel, sondern eine Änderung des Lebensstils – ohne Nikotin, Bier und Bratwurst, dafür mit mehr Sport und eventuell einer Psychotherapie. Männer hören nicht in sich hinein, sie verdrängen. Gehen sie zu Arzt oder Ärztin, sehen wir in allen Fachbereichen häufig ausgeprägte Befunde.“

Welche Rolle sollte zukünftig der Gendermedizin zukommen?

Krüger: „Wir sollten unsere Diagnose- und Behandlungsmethoden geschlechtersensibel anpassen – vor allem in den nicht chirurgischen Fächern.“

Harth: „Männermedizin ist mehr als eine mechanische Reparaturmedizin, sie braucht eine besondere Ansprache. Hier fehlen noch präventive Konzepte in einer gut verständlichen Sprache, die sich an Männer richtet.“
 

Männer hören nicht in sich hinein, sie verdrängen. Gehen sie zu Arzt oder Ärztin, sehen wir in allen Fachbereichen häufig ausgeprägte Befunde. Männermedizin ist mehr als eine mechanische Reparaturmedizin, sie braucht eine besondere Ansprache.

Chefarzt in der Klinik für Dermatologie und Allergologie, Schwerpunkt Männergesundheit, im Vivantes Klinikum SpandauProf. Dr. Wolfgang Harth

X und Y – die Chromosomen

Frauen sind mit zwei X-Chromosomen ausgestattet, Männer mit einem X- und einem Y-Chromosom. Das hat Folgen für die hormonelle Ausstattung, die zum einen verantwortlich für die Ausprägung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale ist, zum anderen für eine Reihe an Stoffwechselprozessen, die etwa bei der Behandlung einer der großen Volkskrankheiten, Diabetes Typ 2, eine erhebliche Rolle spielt.

Frauen sind meist nicht nur etwas kleiner und leichter als Männer, sondern auch die Organe unterscheiden sich zum Teil bis in die Zellstruktur und Enzymzusammensetzung. Ein Beispiel: Der weiblichen Leber fällt es schwerer, manches Medikament zu verstoffwechseln und auszuscheiden, das kann leicht zu einer Überdosierung führen. Männliche Zellen dagegen verfügen über ungünstigere Andockstationen für Schmerzmittel, daher brauchen Männer davon häufig mehr. Weil bis vor Kurzem der männliche Körper als Standard galt und es in einigen medizinischen Lehrbüchern noch immer ist, wurde in den letzten Jahrzehnten auf dem jungen Forschungsgebiet der Gendermedizin der weibliche Organismus sozusagen neu entdeckt.

Viele bereits gut erforschte Indikationen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder eben Diabetes Typ 2 sowie gängige Arzneimittel wie etwa Betablocker werden im Blick auf Geschlechterunterschiede erneut untersucht – daher wirkte die Gendermedizin zunächst eher in Richtung des weiblichen Organismus. Selbstverständlich profitiert auch die männliche Gesundheit von der Aufmerksamkeit für geschlechtsspezifische Besonderheiten. So führen beispielsweise unterschiedliche Symptome und gesellschaftliche Normen bei bestimmten Indikationen zu einer Unterdiagnostizierung. Beispielsweise bilden beim Herzinfarkt „männliche“ Symptome den Vergleichsmaßstab. Im Bereich der psychischen oder depressiven Erkrankungen verstellt indes der „weibliche“ Wertmesser den Blick auf eine männliche Depression. Dabei ist die Selbstmordrate bei Männern deutlich höher als bei Frauen.

Das Zusammenspiel von Sex und Gender

Recherchiert man im Internet Bilder zum Begriff Herzinfarkt, zeigen die Ergebnisse überwiegend Männer oder den männlichen Torso. Erst in den 1980er-Jahren fiel auf, dass auch Frauen einen Herzinfarkt erleiden, sich dieser aber mit anderen als den sogenannten klassischen (männlichen) Symptomen äußern kann. Es beruht auf dem ungünstigen Zusammenspiel zwischen
„Sex“ und „Gender“, dass ein „weiblicher“ Infarkt in einigen Fällen gar nicht oder zu spät erkannt wird. Neben den biologisch bedingten unterschiedlichen Symptomen – Männer klagen meist über  starken Schmerz, Druck in der linken Brust oder hinter dem Brustbein, der in die Schulter und den linken Arm ausstrahlt, Frauen dagegen über heftige Übelkeit – führt auch die weitverbreitete Meinung, nur überarbeitete Manager um die 50 Jahre würden einen Infarkt erleiden, oft zu einer Fehl- oder Unterdiagnostizierung bei Frauen.

„Weiblicher“ Herzinfarkt seit 2016 in Leitlinien

Der Weg von der ersten Erkenntnis bis in die alltägliche Versorgung ist lang: Erst 2016 wurde die weibliche Symptomatik in das Programm der Deutschen Nationalen Leitlinien (NVL), einer gemeinsamen Initiative von Bundesärztekammer,  Kassenärztlicher Bundesvereinigung und Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften zur Qualitätsförderung in der Medizin, aufgenommen.

 
 


Der Artikel ist auch im Vivantes Magazin gesund 3/2021 erschienen.