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Schlaganfall bei Kindern: „Die Ursachen sind sehr komplex.“

Schlaganfälle im Kindesalter sind selten und treffen die jungen Patientinnen und Patienten plötzlich und unerwartet. Umso wichtiger ist es, die Signale richtig zu deuten und schnell zu reagieren, sagt Prof. Dr. Hermann Girschick, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im Vivantes Klinikum im Friedrichshain. Denn je früher ein „Hirnschlag“, wie er im Volksmund genannt wird, behandelt werden kann, desto besser stehen die Chancen auf Heilung ohne gravierende Folgen.

Pro Jahr erleiden in Deutschland 300 bis 500 Kinder und Jugendliche zwischen dem 29. Lebenstag und dem 18. Lebensjahr einen Schlaganfall. Während bei Erwachsenen in vielen Fällen der Lebenswandel für die Durchblutungsstörung im Gehirn verantwortlich ist, sind die möglichen Ursachen bei Jüngeren vielschichtig. Sie bedürfen einer eingehenden, fachübergreifenden Untersuchung.

Individuelle Ursache finden

In den Vivantes Kinderkliniken im Friedrichshain und Neukölln arbeiten Spezialistinnen und Spezialisten zahlreicher Fachbereiche Hand in Hand, wenn es darum geht, den individuellen Ursachen der Schlaganfälle schnellstmöglich auf den Grund zu gehen und die betroffenen Kinder zielgerichtet zu therapieren. Prof. Dr. Hermann Girschick, Direktor der Vivantes Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im Friedrichshain, erklärt, wie ein Schlaganfall im jungen Alter entstehen kann und welche Behandlungsmöglichkeiten den Ärztinnen, Ärzte und Therapeutinnen und Therapeuten zur Verfügung stehen.

Prof. Dr. Girschick, Was sind die Ursachen von Schlaganfällen im Kindes- und Jugendalter?

Girschick: Die Ursachen bei jungen Patientinnen und Patienten sind sehr komplex. Angeborene Fehlanlagen in Gefäßen, zum Beispiel Aneurysmen oder Blutschwämmchen, können im Gehirn freie Blutungen verursachen, die zu Störungen der Nervenversorgung führen. Auch ein Hirntumor kann Nerven abdrücken und einen Schlaganfall hervorrufen. Außerdem gibt es Autoimmunerkrankungen, bei denen das Immunsystem Gehirngefäße attackiert. Hierdurch bilden sich Gefäßentzündungen, die eine Durchblutungsstörung nach sich ziehen können. In sehr seltenen Fällen führen angeborene Gerinnungsstörungen zu Gefäßverschlüssen und einem Schlaganfall.

Trifft das auch auf Neugeborene zu?

Girschick: Bei Neugeborenen spricht man von einem neonatalen Schlaganfall. Hier ist oftmals eine komplizierte Geburt, etwa eine Zangengeburt, die Ursache. Auch die Frühgeburtlichkeit kann die Entstehung eines Schlaganfalls begünstigen, da die Gefäße bei Frühgeborenen sehr fragil und empfindsam sind.

Woran erkenne ich, dass mein Kind einen Schlaganfall hat?

Girschick: Wie genau sich ein Schlaganfall äußert, hängt von der Stärke, Ursache und dem betroffenen Hirnareal ab. Durch Blutungen und Hirntumore verursachte Anfälle führen zu starken Kopfschmerzen, die einer schweren Migräne ähneln. Die Betroffenen empfinden dies als schmerzhaften Stich oder Schlag auf den Kopf. Schädigt die Durchblutungsstörung motorisch relevante Bereiche im Gehirn, setzen Lähmungserscheinungen ein. Sind das Sprachzentrum oder die Sehrinde betroffen, können eine verwaschene, eingeschränkte Sprache beziehungsweise ein stark eingeschränktes Sehvermögen auftreten. Derartige Ausfallerscheinungen und plötzliche, massive Kopfschmerzen sind Alarmzeichen, auf die Eltern umgehend reagieren sollten.

Starke Kopfschmerzen, Seh- oder Sprachstörungen?

Was sind die ersten rettenden Maßnahmen, die ich bei Verdacht ergreifen kann?

Girschick: Hier gilt die Devise „time is brain“, also „Zeit ist Schutz des Gehirns“. Sie sollten auf alle Fälle einen Notarzt rufen, den Verdacht auf Schlaganfall äußern und dafür sorgen, dass das Kind in eine große Kinderklinik mit neuroradiologischer Diagnostik und einer Spezialisierung in Richtung Kinderneurologie und Kinderimmunologie gebracht wird.

Was passiert in der Klinik?

Girschick: Der erste Schritt ist eine umfassende Differenzialdiagnostik. Die Spezialisten für Neurologie, Blutgerinnung, Autoimmunerkrankungen und Tumore kommen zusammen und bringen ihr gesamtes Wissen ein, um schnellstmöglich die Ursache des Schlaganfalls zu finden. Dann erhält jede junge Patientin oder jeder junge Patient eine speziell auf sein Krankheitsbild zugeschnittene Behandlung.

Welche Behandlungsmethoden kommen infrage?

Girschick: Weisen die Ärztinnen und Ärzte eine Gefäßentzündung aufgrund einer Autoimmunerkrankung nach, kann es notwendig sein, das Immunsystem über einen längeren Zeitraum hinweg kontrolliert zu unterdrücken. Bei Fehlanlagen in Gefäßen und bei Hirntumoren sind eine Operation oder der Einsatz von Betablockern mögliche Maßnahmen. Liegt ein Gefäßverschluss vor, ist eine gerinnselauflösende Therapie denkbar. Die häufigste Behandlungsform ist aber die symptomatische Therapie: Experten versuchen, die durch einen Schlaganfall eingetretenen Folgen auszugleichen und zu mildern.

Wie verläuft die Rehabilitation und wie hoch sind die Heilungschancen?

Girschick: Die Rehabilitation im Kindesalter erfolgt entsprechend der jeweiligen Grunderkrankung in Zusammenarbeit mit Physiotherapeut*innen, Logopäd*innen, Ergotherapeut*innen, Immunspezialist*innen und Neurolog*innen. Sie begleiten die jungen Patientinnen und Patienten teilweise über mehrere Jahre. Kinder sind sehr lernfähig und haben deshalb gute Aussicht auf Heilung. Je nach Schwere des Schlaganfalls können Einschränkungen zurückbleiben, mit denen die Betroffenen erfahrungsgemäß aber durchaus gut zurechtkommen können. Somit ist die Prognose in vielen Fällen positiv.


KONTAKT
Prof. Dr. Hermann Girschick
Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Landsberger Allee 49, 10249 Berlin
Tel. 030 130 23 1572
hermann.girschick@vivantes.de


Dieser Artikel ist auch erschienen im Vivantes Magazin „gesund!“, Ausgabe 2/2020, Seite 26/27.


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