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„Die Musik hört zu“ – von der heilenden Wirkung der Töne

Es gibt Musikstücke, die uns an Menschen erinnern, Urlaube, die ihren eigenen Soundtrack haben, Momente, in denen wir ein bestimmtes Lied hören wollen. Warum das so ist und warum traurige Melodien manche Menschen glücklich machen können, darüber spricht Anders Jefsen, Musiktherapeut in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Vivantes Klinikum Kaulsdorf.

Herr Jefsen, als Musiktherapeut nutzen Sie die heilende Wirkung der Musik. Wird Musik für die Behandlung bestimmter Krankheitsbilder eingesetzt?

Die Musiktherapie kann krankheitsübergreifend angewandt werden. Es geht weniger um bestimmte Erkrankungen, als um die individuellen Bedürfnisse der Patient*innen und die Frage, wie Musik sie unterstützt. Zum Beispiel kann die Musik Menschen mit Psychosen oder Autismus oft helfen, in Verbindung mit dem Außen zu treten und Kontakt zu anderen herzustellen, ohne dass Sprache notwendig ist. Oder sie schafft die Verbindung nach Innen .  Letztlich sind wichtige Eigenschaften der Musik, dass sie kommunikativ ist, Kontakt und einen Zugang zu den eigenen Emotionen ermöglicht, ohne dass viele Worte oder Erklärungen nötig sind. Die Musik hilft, Brücken sowohl nach innen als auch nach außen zu schlagen.

Gibt es Musik, die dafür besonders gut geeignet ist?

Bei der „rezeptiven Musiktherapie“, bei der man nicht selbst musiziert, sondern zuhört, wählen wir oft Instrumentalstücke. Es kann z.B. klassische Musik sein oder Filmmusik, vielleicht auch Weltmusik, die für die Patient*innen oft leichter angenommen werden kann und nicht überfordert. Besonders unterstützend ist Instrumentalmusik ohne abrupte Wechsel, ausgeprägte Schwankungen und große Melodieverläufe, mit stabilem Puls und mit eher weniger Instrumenten. Solche Musik bietet Stabilität und Patient*innen können sich länger darauf einlassen, vielleicht auch entspannen und über die Musik sanft ins Erleben und Wahrnehmen kommen. Allerdings spielen dabei auch der individuelle Geschmack und die musische Biographie des Menschen eine entscheidende Rolle. In manchen Fällen kann auch die eigene Musik der Patient*innen in die Therapie mitgebracht werden.

Aber wird nicht jeder Mensch anders von Musik angesprochen?

Das stimmt. Wir behandeln unsere Patient*innen in der Klinik vor allem in Akut-Situationen, wo die Emotionen, die durch Musik angesprochen werden, leicht überfordern können. Hier geht es zuerst um Stabilisierung. Die Musik soll erstmal helfen, Kontakt, Geborgenheit und Vertrauen zu etablieren. Insbesondere, wenn Patient*innen sich selbst lange nicht mit ihren Gefühlen beschäftigt haben, oder wenn jemand sich sehr zurückgezogen hat, sind diese stabilisierenden Faktoren bedeutsam. Es ist wichtig zu wissen, welchen Bezug unser Gegenüber zur Musik hat, ob er oder sie selbst ein Instrument spielt oder von einem Musikstück/Instrument besonders fasziniert ist, das er oder sie hört, um sich wohlzufühlen. Außerdem spricht uns Musik zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen emotionalen Zuständen anders an.

Werden neben der „rezeptiven Musiktherapie“ von den Patient*innen Instrumente auch selber gespielt?

Ja, während das Zuhören vor allem die Wahrnehmung nach Innen fördert und Bilder vor dem inneren Auge entstehen und die Musik körperlich empfinden lassen, gehen wir beim selber Musizieren oder Singen mehr aus uns heraus, drücken uns aus, kommen aber auch mit einander in einen direkteren Kontakt. Wie entdecken wir unseren eigenen Ausdruck? Es geht nicht darum, ein Instrument zu beherrschen, sondern die Musik als Ausdrucksweg zu erfahren, zum Beispiel durch Improvisation. Jeder Mensch besitzt eine angeborene Musikalität, auf welche die Musiktherapie zurückgreift.

 

Musizieren Sie gemeinsam mit den Patient*innen?

Ja, das gemeinsame Spielen, die haltgebende Unterstützung durch den Therapeuten, spielt in der Musiktherapie eine große Rolle. Ich begleite beispielsweise mit dem Klavier, der Gitarre, oder der Trommel. Die Begleitung und das gegenseitige Zuhören beim Spiel bietet den Patient*innen Halt und es entsteht ein Kontakt durch Spiegelung, Dialog und Variation. Ein Musiktherapeut ist darin geschult, seine Patienten*innen musikalisch zu unterstützen und deren emotionalem Ausdruck achtsam zu lauschen. Er hilft so im musikalischen Kontakt Emotionales zu erleben, zum Ausdruck zu bringen und bewusst zu machen.

Ein Gespräch ohne Worte. Wird über die Erfahrungen auch „buchstäblich“ gesprochen?

Ja, Sprache ist in der Musiktherapie auch wichtig, z.B. um ein gegenwärtig wichtiges Thema einzukreisen oder um nach einer Musikerfahrung das auf einer subtileren Ebene Wahrgenommene und Erlebte zu vertiefen und bewusster zu machen. Die Musik gibt dem Unbewussten Raum. Mit der Sprache wird es bewusst. Die Brücke zwischen Gefühl und Gedanken wird geschlagen: Was habe ich erlebt? Wie habe ich es wahrgenommen? Was macht das mit meinem Körper? Wie war der Kontakt? Manche Patient*innen haben keine Sprache oder sie müssen die Sprache erst finden. Da kann alles auch über Musik zur Sprache kommen.

Hat Musik unmittelbare medizinische Effekte, also eine heilende Wirkung?
Es gibt nachweislich physikalische Wirkungen der Musik auf den Körper: den Atem, das Nervensystem, den Puls, den Muskeltonus. Die Musik stellt also nicht nur eine Verbindung zu den Emotionen, sondern auch zum Körper her. Wichtig für eine Indikation bzw. für den Einsatz von Musiktherapie sind der individuelle Bezug zur Musik, die Biographie und die Erfahrungen, die die Patient*innen gemacht haben. Für eine sich als Psychotherapie verstehende Musiktherapie steht das Interpersonelle, die menschliche Beziehung und der Kontakt im Vordergrund. Dagegen spricht man bei einem direkten physikalischen Effekt der Musik von „Musikmedizin“, die ohne einen Therapeuten angewandt wird.

Wie lässt sich die heilende Wirkung erklären?

Ich denke, Stimmlaute, Töne, Tonverläufe, Klänge sind die ursprünglichste Form, um Kontakt aufzunehmen. Schon im Bauch der Mutter ist der Gehörsinn einer der ersten, der sich entwickelt. Das Kind nimmt den Herzrhythmus und die Stimme seiner Mutter wahr. Frühe Erfahrungen von Kommunikation mit den Fürsorgepersonen betreffen musikalische Parameter. Man spricht hier von einer „kommunikativen Musikalität“, die für die Entwicklung eines Kindes sehr bedeutsam ist. Die früheste Kommunikation ist eine musikalische. Diese frühkindlichen musikalischen Erfahrungen vermitteln Geborgenheit und prägen uns. Allerdings gilt das auch für entsprechende negative oder Mangelerfahrungen. „Musikalität“ ist, so verstanden, also nicht nur etwas, das erlernt werden muss, sondern sie ist von Anfang an erlebbar. In diesem Sinne greift Musiktherapie auf frühe Erfahrungen von Geborgenheit zurück und ermöglicht auch ein Nachnähren von entsprechenden Defiziten.

Warum macht traurige Musik glücklich?

Ich bin mir nicht so sicher, ob jeder dieser Aussage so zustimmt. Alle Gefühle sind wichtig und brauchen ihren Raum. Wenn ich ein melancholisches Stück hören will, dann liegt diese Stimmung vielleicht schon in mir, sie will gehört werden. Und durch die traurige Musik fühle ich mich dann verstanden. Die Musik hört mir zu, gibt mir einen Kanal.  Das, was da in mir festsitzt, macht die Musik plötzlich beweglich, drückt es aus. So wird die Trauer von innen nach außen gebracht. Das wirkt erleichternd. Für manche unserer Patient*innen hat die Musik diese große Bedeutung, dass sie sich von ihr verstanden fühlen.