Veröffentlicht am

Nesthocker - wenn erwachsene Kinder nicht ausziehen

Die lieben Großen - immer mehr wohnen mit Mitte zwanzig immer noch zu Hause. Wie ist die „Generation Nesthocker“ zu erklären und wie kann eine Abnabelung gelingen? Im Interview erklärt ein Oberarzt der Tagesklinik Helle Mitte das Phänomen.

Wenig Konflikte, wenig Geld

Es gibt eine Reihe von Gründen, warum viele junge Menschen länger im Elternhaus wohnen  bleiben. Zum einen sind die Mieten und Lebenshaltungskosten, besonders in den Universitätsstädten, sehr hoch. Ohne Finanzspritze von zu Hause oder Nebenjobs lassen sich die Kosten nicht tragen. Zum anderen hat sich der noch in den 1960er- und 1970er-Jahren vorhandene Generationenkonflikt deutlich entschärft.

„Die Wohnung ist immer sauber, der Kühlschrank voll, und Mama kocht“, freut sich Lennard, 24. Im Haus seiner Eltern bewohnt er das Dachgeschoss: zwei Zimmer, Küchenzeile, Bad. Miete zahlt er nicht, dafür macht er sich „nützlich“: im Garten, beim Autowaschen oder Einkaufen. Vater Gernot (57) ist im Zwiespalt: „Einerseits freuen wir uns, dass eines unserer drei Kinder noch bei uns wohnt. Andererseits fragen wir uns schon, ob es sich unser Sohn nicht recht bequem macht und den Schritt ins  richtige Leben absichtlich hinauszögert.“

Sehnsucht nach Berechenbarkeit und Zusammengehörigkeit

Erwachsene Kinder und ihre Eltern stehen sich heute näher als früher, und das auf vielen Ebenen. Dazu scheint die globale Welt da draußen fragil und unberechenbar: mit immer neuen Praktika, Volontariaten und befristeten Arbeitsverträgen, gesellschaftlichen und politischen Unruhen - und aktuell einer Pandemie. Die Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit, Beschaulichkeit, Berechenbarkeit ist groß – über die Generationen hinweg. Ist man nah beieinander, in einem vertrauten und verlässlichen Umfeld, fühlt man sich sicherer.
 

Kinder sollten die Erfahrung machen können, sich distanzieren zu dürfen, sich dann aber im Guten wieder annähern zu können. Eltern sollten sich bewusst mit eigenen Wünschen an das Leben jenseits der Elternrolle auseinandersetzen.

Oberarzt in der Tagesklinik FRITZ Helle Mitte in HellersdorfDr. Ramin Safaei-Rad

Sich voneinander Abnabeln

Im Interview erklärt Dr. Safaei-Rad, Oberarzt in der Tagesklinik FRITZ Helle Mitte in Hellersdorf das Phänomen der „Nesthocker“ und wie eine Abnabelung gelingen kann. Das Behandlungsangebot des Früh- und Interventionszentrums in seiner Tagesklinik richtet sich an junge Erwachsene in ersten psychischen Krisen.

Herr Dr. Safaei-Rad, verläuft der Ablösungsprozess junger Erwachsener heute anders als in den vergangenen Jahren?

Dr. Ramin Safaei-Rad: „Die Ablösung von der Herkunftsfamilie ist seit jeher eine Lebensaufgabe. Es geht dabei um Abgrenzung im Sinne einer Stärkung der eigenen Identität und um einen Zugewinn an innerer und äußerer Autonomie. Natürlich beeinflussen kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen unsere Beziehungen und damit diesen Prozess. Durch unsere heutigen Kommunikationsmöglichkeiten sind Heranwachsende seltener in Situationen, in denen sie wirklich auf sich alleine gestellt sind. Die stark steigenden Mieten machen es zudem real schwieriger, das Elternhaus zu verlassen. Auf der Beziehungsebene bemühen sich Eltern heutzutage vielleicht mehr um Verständnis und einen respektvollen Umgang mit ihren heranwachsenden Kindern, als es noch vor einigen Generationen der Fall war. Das ist sicher grundsätzlich positiv, kann aber die Ablösung voneinander beeinflussen. Ein Identitätsgefühl wird dann möglicherweise weniger aus einer Rebellion gegen die Eltern gebildet, Fragen der Zugehörigkeit zu immer spezifischeren gesellschaftlichen Gruppierungen scheinen aktuell bedeutsamer zu sein.“

Traut sich die junge Generation weniger zu?

Dr. Safaei-Rad: „Mein persönlicher Eindruck: Jüngere Erwachsene, die in einem wohlwollenden, fördernden Umfeld groß geworden sind, haben heute tendenziell weniger das Gefühl, sich sehr viel zutrauen zu müssen – im Sinne einer Anforderung oder Erwartung an sie. Eher spielt die Frage eine Rolle, welches Bild von sich selbst man aus der Fülle der Möglichkeiten verwirklichen möchte, für welche Ziele es sich lohnt, auch etwas in Kauf zu nehmen, für welche dann vielleicht auch nicht. Die Realität ist aber, dass viele Jugendliche auch heutzutage ihren Weg in einem wenig fördernden Umfeld finden müssen.“

"Es geht für beide Seiten um ein neues Austarieren von Nähe und Distanz"

Wie gelingt eine „gesunde“ Abnabelung?

Dr. Safaei-Rad: „Es geht für beide Seiten um ein neues Austarieren von Nähe und Distanz. Wir neigen dazu, Nähe eher als positiv zu bewerten und Distanz eher als negativ, das ist aber nicht der Fall, wir brauchen beides. Gerade in der Distanz zum Vertrauten erobern wir uns das Leben. Kinder sollten die Erfahrung machen können, sich distanzieren zu dürfen, sich dann aber im Guten wieder annähern zu können. Eltern sollten sich bewusst mit eigenen Wünschen an das Leben jenseits der Elternrolle auseinandersetzen.“

Statistik

Wer bleibt länger zu Hause?

Im Jahr 2021 gab es in der deutschsprachigen Bevölkerung rund 2,65 Millionen „Nesthocker“: 20 bis 39 Jahre alte Personen, die nicht mit Partner*innen zusammenleben, in Haushalten mit mindestens zwei Personen, ohne eigene Kinder, und für die im Allgemeinen jemand anderes kocht.

Auffällig ist, dass deutlich mehr Männer als Frauen länger zu Hause wohnen bleiben und darunter mehr Süd- als Norddeutsche sind.

 
FRITZ in der Tagesklinik Helle Mitte
030 409 16 0210

Dieser Artikel ist auch im Vivantes Magazin Ausgabe 1-2022 erschienen.