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Vom Welt-Adipositas-Tag 2023 lernen

Zum Welt-Adipositas-Tag 2023 feierte das Adipositas-Zentrum Berlin einen Tag der offenen Tür – ein voller Erfolg! Circa 60 Besucher*innen konnten sich direkt miteinander austauschen & mehr über Therapien bei starkem Übergewicht erfahren. Am internationalen Adipositas-Tag erfahren Patient*innen der Adipositas-Erkrankung oft zum ersten Mal, wie es ist, mit Respekt behandelt zu werden. Eine traurige Bilanz für unsere Gesellschaft!

Let's Talk about Obesity: Warum wir nicht aufhören, über Adipositas zu sprechen

Das Zentrum für Adipositas und metabolische Chirurgie in Berlin-Spandau öffnete zum Welt-Adipositas-Tag am 04. März 2023 seine Pforten und zelebrierte einen offenen Dialog mit Betroffenen. "Let's Talk about Obesity" war das Motto. 

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Ordemann, Chefarzt des Vivantes Adipositas-Zentrums im Klinikum Spandau, und Frau Hellwig-Schenkel, Fachkoordinatorin für metabolische Erkrankungen, über die Bedeutung dieser Veranstaltung – und was noch passieren muss, damit mehr adipösen Patient*innen geholfen werden kann.

Gruppenporträt von 6 Ärzt*innen und Therapeutinnen für Adipostias
Engagiert für Adipositas-Patient*innen: Dr. med. Christine Rohde, Prof. Dr. Diana Rubin, Inga Putz, Antje Hellwig-Schenkel, Jana Fleuch und Prof. Dr. Ordemann (v.l.n.r., Foto: Martin Burmeister)

Prof. Dr. Ordemann, wozu dient der Welt-Adipositas-Tag?

Prof. Dr. Ordemann: Der jährliche Adipositas-Tag Anfang März ist dafür da, um die Vorurteile gegenüber Betroffenen abzubauen. Da gibt es noch extrem viel zu tun! Vorurteile und Stigmatisierung sind immer Ausdruck der Unwissenheit.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele meiner normalgewichtigen Gesprächspartner*innen nach einer Diskussion feststellen mussten, dass sie ihr Bild von Adipositas korrigieren mussten – und damit auch ihre Haltung gegenüber adipösen Patient*innen.

Erst das Wissen über die letztlich auch tödliche Erkrankung Adipositas führt zum Umdenken – und genau dafür ist der „Welt-Adipositas-Tag“ da!

Fakten zu Adipositas

In Deutschland sind schätzungsweise 17 Millionen Menschen stark übergewichtig (adipös), aber nur ein kleiner Prozentsatz wird derzeit behandelt.

In etwa 9 von 10 Fällen wird die Erkrankung Adipositas nicht einmal diagnostiziert! Die Auswirkungen auf die Betroffenen sind dramatisch.

Adipositas-Konsil in allen Vivantes Krankenhäusern

Seit Anfang 2023 können Ärzt*innen in allen Vivantes Kliniken für ihre Patient*innen ein Konsil beim Team von Prof. Dr. Ordemann anfragen – mit nur einem Klick.

Damit mehr stillschweigende Adipositas-Diagnosen erkannt werden, auch wenn eine Adipositas-Erkrankung nicht ausdrücklich im Mittelpunkt der stationären Behandlung steht!

Die Therapieempfehlung für eine Adipositas-Erkrankung ist oft der erste Schritt, um Patient*innen eine Chance auf mehr Lebensqualität mit weniger Begleiterkrankungen zu geben.

Prof. Dr. Ordemann warum ist es so wichtig, dass Patient*innen mit Adipositas solche Räume der Begegnung bekommen?

Prof. Dr. Ordemann: Adipöse Patient*innen fühlen sich häufig allein und nicht verstanden. Sie werden für ihre Erkrankung selbst verantwortlich gemacht, verurteilt und stigmatisiert. Dies geschieht leider immer noch in weiten Kreisen der Gesellschaft – übrigens auch bei Ärzt*innen und das ist besonders schlimm.

In unserem Adipositas-Zentrum stoßen diese Patient*innen häufig erstmalig auf Verständnis ihrer teilweise sehr bedrückenden Lage. Ihnen wird erklärt, was die Erkrankung Adipositas alles bedeutet. Der stigmatisierende Satz „Essen Sie weniger“ fällt bei uns nicht!

Damit ist unser Adipositas-Zentrum nicht nur ein Ort, wo die chronische Erkrankung Adipositas und seine verheerenden Folgeerkrankungen therapiert werden, sondern auch ein Mut-Macher-Raum für Betroffene.

Frau Hellwig-Schenkel, Sie sind ja selbst eine bariatrisch operierte Patientin: Können Sie beschreiben, worauf es der Adipositas-Community ankommt?

Frau Hellwig-Schenkel: Wir Törtchen – ich mag das Wort „Adipositas“ eigentlich nicht und nenne uns daher liebevoll „Törtchen“ – werden von der Umwelt nur als dick wahrgenommen. Und für die meisten bedeutet das leider: dick = doof und ohne Willenskraft.

Das kränkt uns sehr. Wir geben das nicht oft zu, verstecken das hinter einer freundlichen Fassade und bedienen diesen Frust mit Essen. Es gibt meistens nicht viele Freunde und viele Ärzt*innen sind uns auch keine große Hilfe.

Deshalb sind Patient*innen sehr erstaunt darüber, dass wir hier im Vivantes Adipositas-Zentrum wirklich ein WIR sind!

Hier unterstützen wir den offenen Austausch untereinander, helfen, Gleichgesinnte zu finden und sich auf Augenhöhe zu treffen.

Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass viele Betroffene jemanden suchen, der sie versteht. Mit dem man den Weg gemeinsam geht. Mit dem man sich ohne Scheu austauschen kann, – ohne den erhobenen Zeigefinger befürchten zu müssen!

Und wir wollen auch stolz sein dürfen über das, was wir erreicht haben – auch, wenn es nur kleine Schritte sind!

Prof. Dr. Ordemann: Was war Ihr Highlight am Welt-Adipositas-Tag 2023?

Prof. Dr. Ordemann: Mein Highlight war tatsächlich der offene und persönliche Austausch mit Patient*innen. Es waren ja zwischen 50 und 70 Besucher*innen da – übrigens nicht nur Betroffene, sondern auch Familien und Freunde. Das war besonders schön.

Patient*innen, die in unserem Zentrum therapiert werden, finden hier genau das, was sie im Alltag sehr häufig vermissen: Respekt, Verständnis und die Erkenntnis, dass es einen Weg aus der Erkrankung Adipositas gibt.

Der „Welt-Adipositas-Tag“ kam extrem gut bei den Besucher*innen an und tatsächlich auch bei allen, die diesen Tag möglich gemacht haben. Alle haben gespürt, dass Veränderungen möglich sind. Und am Ende profitieren nicht nur die, die stigmatisiert werden, sondern auch die, die stigmatisieren!

Bilder vom Adipositas-Tag im Klinikum Spandau

Erfolg bei Betroffenen: Adipositas-Familie

Frau Hellwig-Schenkel, wie haben Sie den Welt-Adipositas-Tag im Klinikum Spandau erlebt?

Frau Hellwig-Schenkel: Ich habe diese Veranstaltung als sehr gelungen wahrgenommen. Wir haben uns bewusst für ein Miteinander vor Ort entschieden, also Patient*innen als Akteure der Veranstaltung zu sehen und so kam es auch an. Der Austausch untereinander war wichtig, sowie gemeinsame Aktionen und einfach nur  Spaß zu haben.

Es kam ein starkes Wir-Gefühl auf, als wenn man alte Bekannte trifft. So soll es sein. Wir sind eine große Adipositas-Familie.

Und Herr Prof. Dr. Ordemann: Was war Ihr Eindruck? Haben sich die Besucher*innen wohl gefühlt?

Prof. Dr. Ordemann: Aber selbstverständlich: Patient*innen spüren, dass sie im Vivantes Adipositas-Zentrum gut aufgehoben sind und dass sie jemanden gefunden haben, der ihre Erkrankung ernst nimmt. Das Feedback in unserem Gästebuch spiegelt das deutlich wieder, was mich wirklich sehr freut.

Patientin spricht über ihre Erfahrung mit Adipositas-OP

Auf der Veranstaltung zum Welt-Adipositas-Tag hat eine Patientin auch offen über ihre Erfahrung mit einer Magenbypass-Operation erzählt. Damit möchte sie auch andere Betroffene motivieren – zeigen, dass es Therapien gibt, die wirken!

Sich gegenseitig zu unterstützen, wird in der Community ehrlich gelebt: ob in der Facebook-Gruppe, in der Selbsthilfegruppe oder live im Adipositas-Zentrum, wo auch schon tiefe Freundschaften entstanden sind.

   

Respekt & Unterstützung für Betroffene

Prof. Dr. Ordemann was sind Ihre Wünsche oder Erwartungen nach dem diesjährigen Adipositas-Tag? Haben Sie vielleicht Empfehlungen für ärztliche Kolleg*innen?

Prof. Dr. Ordemann: Ja, tatsächlich wünsche ich mir jedes Jahr, dass noch mehr Menschen erkennen, dass adipöse Menschen nicht mit Verachtung bestraft werden sollten – sondern unser Mitgefühl, Unterstützung und ein offenes Ohr verdienen. Und das an jedem Tag des Jahres!

Besonders bei Mediziner*innen erhoffe ich mir noch mehr Verständnis für diese chronische Erkrankung. Bei Vivantes hilft das neue Adipositas-Konsil schon etwas. Als einer der größten Gesundheitsanbieter in Berlin haben wir ja auch eine große Verantwortung! Insgesamt wünsche ich mir, dass noch mehr Kolleg*innen für Anzeichen dieser Erkrankung sensibilisiert werden – und Betroffene nicht mehr von Kolleg*innen 'abgekanzelt' werden.

Frau Hellwig-Schenkel, wo sehen Sie die nächsten Aufgaben, um das gesellschaftliche Bewusstsein rund um Adipositas zu stärken?

Frau Hellwig-Schenkel: Im Prinzip müsste bezüglich Adipositas ein kleiner Kulturwandel stattfinden: Schon im Elternhaus und im Kindergarten sollte gelernt werden, dass Dicke nicht einfach faul sind, sondern dahinter eine ernst zu nehmende Erkrankung steckt!

Auch bei den Krankenkassen vermisse ich noch Verständnis. Wir Adipösen sollen nur 'zu blöd sein, um richtig zu essen'?! Und was ist mit Diabetiker*innen? Sie bekommen eine Therapie, die von den Krankenkassen getragen wird. Dabei ist der Diabestes oft auch durch Übergewicht entstanden. Aber nur mit dieser Diagnose wird man von der Krankenkasse unterstützt.

Viele Patient*innen landen mit anderen Erkrankungen in Krankenhäusern und können aufgrund der grundlegenden Adipositas erst einmal gar nicht richtig behandelt werden: Erst muss das Gewicht runter und dann kann die andere Erkrankung behandelt werden.

Prof. Dr. Ordemann: Das stimmt. Oft muss Adipositas erst als grundlegende Diagnose erkannt werden, damit überhaupt Folgeerkrankungen behandelt werden können. Im Grundsatz heißt das für mich: Die Gesundheitsangebote für adipöse Menschen müssen besser aufeinander abgestimmt werden. Das fängt bei der Erkenntnis an, dass Adipositas als chronische Erkrankung noch mehr im Bewusstsein von Mediziner*inner verankert werden muss.

 
Umgang mit adipösen Menschen – auch in der Medizin

Prof. Dr. Ordemann, Chefarzt des Vivantes Adipositas-Zentrums in Berlin-Spandau, sagt:

"Wichtig ist der respektvolle Umgang mit betroffenen Patient*innen.
Und – das ist das entscheidende – einfache Dinge, wie Zuhören können und die Sorgen der Betroffenen ernst nehmen, ist schon sehr viel!

Das wünsche ich mir auch noch viel mehr von meinen ärztlichen Kolleg*innen. Die Adipositas-Pandemie ist einfach zu dramatisch und es wäre nicht nur schade nichts zu tun, sondern es wäre verantwortungslos!

Wenn Patient*innen dann noch eine personalisierte Therapie angeboten werden kann, ist wirklich viel erreicht. Sie bekommen neue Hoffnung und Unterstützung auf ihrem anstrengenden Weg der Gewichtsreduktion und Gewichtskontrolle.

Mein Ziel ist es, dass wir es schaffen, die Ursachen, die Folgen und die Therapiemöglichkeiten der chronischen Erkrankung Adipositas der Öffentlichkeit, aber auch den Akteuren des Gesundheitssystems und den politischen Entscheidungsträgern noch verständlicher zu machen, – um Hürden für Patient*innen weiter abzubauen. Damit noch mehr Betroffenen geholfen werden kann!

Solange dies nicht der Fall ist, werden wir nicht aufhören, über die Bedeutung und Ausmaße der Adipositas-Erkrankung zu reden!"

 

Fotos & Videos: Martin Burmeister; master1305 - freepik.com