Was viele über Epilepsie nicht wissen: Gamechanger und Vorurteile
Forschungsfortschritte: Heute gut therapierbar
Epilepsie ist die häufigste neurologische Erkrankung, die auch junge Menschen betrifft. Etwa 1 Prozent der Menschen haben Epilepsie, also jeder Hundertste. Einen epileptischen Anfall bekommen viel mehr, nämlich etwa jeder Zwanzigste.
Zum Tag der Epilepsie – Deutsche Epilepsievereinigung (epilepsie-vereinigung.de) 2023 am 5. Oktober interviewen wir die Epilepsie-Expertin und Chefärztin der Klinik für Neurologie am Reinickendorfer Humboldt-Klinikum, Prof. Dr. Bettina Schmitz. Sie betreut mit ihrem Team etwa 2000 Menschen im Jahr. In die Epilepsiesprechstunde im Reinickendorfer Klinikum und im MVZ am Vivantes Klinikum Am Urban können Menschen mit unklarer Diagnose oder zur Überprüfung ihrer Behandlung kommen oder Menschen, die an psychosozialen Folgen wie etwa Depressionen leiden.
"Viele Menschen können gut mit Epilespie leben"
Frau Prof. Dr. Schmitz, der Tag der Epilepsie 2023 hat das Motto „Epilepsie – wir schreiben Geschichte“ – worum geht es?
Prof. Dr. Bettina Schmitz: „Heutzutage ist Epilepsie zum Glück so gut therapierbar, dass viele gut mit der Erkrankung leben können. Oft ohne größere Einschränkungen, wenn sie ihre Medikamente regelmäßig nehmen. Erfreulicherweise können Menschen mit Epilepsie heute Beamte werden, vor ein paar Jahrzehnten nicht. Auch Priester konnten Betroffene nicht werden. Und vom Kinderkriegen wurde Epileptiker*innen auch abgeraten. Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass viele berühmte Menschen Epileptiker waren und dass wir Vorurteile abbauen sollten, durch Aufklärung.
Ein anderer Aspekt ist historisch. Insbesondere in der deutschen Geschichte waren Epileptiker etwa von Euthanasie und Zwangsterilisation bedroht. Ich habe auch Menschen kennenglernt, von Familien versteckt wurden. Diese Ängste und Vorurteile, die daraus resultieren, wirken bis heute. Wissenschaftlich dies noch nicht so gut aufgearbeitet wie andere Themen, auch nicht in der Opferforschung. Es wird sich jetzt mehr damit auseinandergesetzt, etwa von der Stiftung Michael, bei der ich Mitglied bin.“
Überholte Ansichten
Begegnen Sie Vorurteilen auch im Klinikalltag?
„Ja. Wenn ich etwa einem Patienten sage: ‚Sie haben Glück, es ist kein Schlaganfall, sondern nur eine Epilepsie, und die können wir gut behandeln“ – dann verstehen das viele Menschen nicht. Ich meine es aber genau so. Tatsächlich würden manche Menschen offenbar eine schwerere Erkrankung bevorzugen. Im Gespräch merke ich dann meist, dass überholte Ansichten dahinterstecken. Die Stigmatisierung ist auch oft unbewusst, und es hilft, wenn wir uns klarmachen, woher dies kommt.“
Ziel: Anfallsfrei leben
Wie wichtig es ist, eine Epilepsie frühzeitig zu erkennen und zu behandeln?
„Epilepsie kann sich ja auf alle Lebensbereiche auswirken: Familie, Freizeit und Beruf. Eine optimale Behandlung ist deshalb so wichtig, damit man möglichst „normal“ weiterleben kann. Die Therapie sollte möglichst bald beginnen, wenn Erkrankung anfängt, damit keine Lebensqualität verloren geht. Wenn man also schnell und optimal behandelt wird, können zwei Drittel der betroffenen Menschen anfallsfrei werden.“
Epilepsie kann sich ja auf alle Lebensbereiche auswirken: Familie, Freizeit und Beruf. Wenn man also schnell und optimal behandelt wird, können zwei Drittel der betroffenen Menschen anfallsfrei werden.
Nervenzellschädigung verlangsamen oder stoppen
Zuckungen, Sinnesstörungen oder Deja-Vus
Woran kann man denn eine Epilepsie erkennen?
„Ein epileptischer Anfall kann erschrecken: Bei einem großen Anfall („grand Mal“) kann ein Mensch hinfallen und unkontrolliert zucken. Aber das kommt selten vor, häufig sind Anfälle viel milder, etwa kleine Zuckungen morgens nach dem Aufwachen. Es kann auch eine Sehstörung oder ein Deja-Vu sein, ein komischer Geruch oder Geschmack, ein Kribbeln oder ein Versteifen. Manche bekommen auch im Schlaf Anfälle. Im Kern ist ein epileptischer Anfall eine pathologische Übererregung und erst wenn dies häufiger auftritt, sprechen wir von einer Epilepsie.“
„Im Kern ist ein epileptischer Anfall eine pathologische Übererregung und erst wenn dies häufiger auftritt, sprechen wir von einer Epilepsie.“
Wenn es so viele unterschiedliche Symptome sein können, ist die Diagnose schwierig?
„Die Diagnose kann schwierig sein und wir nehmen uns daher für die Anamnese Zeit. Manchmal wird eine Epilepsie auch als psychische Störung oder Migräne falsch diagnostiziert. Man muss gerade auch am Anfang der Erkrankung sich Zeit nehmen für Anamnese und Beobachtungen. Daher sprechen wir auch mit Angehörigen, vielleicht gibt es sogar ein Handyvideo von einem Ereignis, das kann uns helfen. Wir sprechen auch über die möglichen Auslöser. Natürlich überprüfen wir dies im EEG (Elektroenzephalografie), bevor wir eine Diagnose stellen.“
Typische Trigger: Stress und Schlafmangel
Gibt es typische Auslöser für Anfälle?
„Unregelmäßiger Schlaf und Schlafmangel, manchmal in Kombination mit Alkohol ist ein häufiger Auslöser. Bei Frauen können es Hormonschwankungen wie der Eisprung sein. Auch Stress ist bei manchen ein Trigger. Es gibt auch – relativ selten – Reflexmechanismen, wie etwa Menschen, die auf Flackerlicht reagieren, beispielsweise auf Partys oder beim Fahren durch Alleen mit Licht und Schatten. Dann macht es natürlich Sinn, diese Situationen, wenn möglich zu vermeiden.“
Wie ist die optimale Behandlung?
„Eine Anfallskontrolle mit gut verträglicher Behandlung kann nicht pauschal sein. Am besten sollte man von Expert*innen individualisiert eingestellt werden. Das können nur Medikamente sein, die zu dem Betroffenen passen, oder auch invasive Behandlungen.“
Neue Therapie: Stimulation direkt im Gehirn
Also eine OP?
„Relativ neu ist ein Stimulationsverfahren mit Silikonplättchen und Elektroden, die operativ dort eingesetzt werden, wo die Epilepsie im Gehirn stattfindet. Dann wird dort diese Stelle stimuliert. Bei den Medikamenten ist es vor allem wichtig zu wissen, dass sie alle unterschiedliche Nebenwirkungen haben und daher nicht jedes Medikament für jeden gleich gut geeignet ist.“
Warum sind nicht alle Medikamente für jeden gut?
„Während einige dick machen, dürfen andere schwangere Frauen nicht einnehmen. Wieder andere Wirkstoffe verlangsamen, manche können Allergien auslösen. Wer schon eine Depression hat, der sollte auch bestimmte Präparate nicht nehmen. Es gibt also viel zu beachten. Wir arbeiten auch eng mit unserer Psychiatrie und unserem Sozialdienst zusammen, um die beste Medikation zu finden. Oberstes Ziel ist natürlich immer die Anfallsfreiheit.“
Gut verträglicher Gamechanger
Gibt es bei den Medikamenten Innovationen?
Schmitz: „Vor etwa zwei Jahren ist ein neues Medikament auf den Markt gekommen, das von vielen als Gamechanger bezeichnet wird, das viele Menschen anfallsfrei gemacht hat und darüber hinaus gut verträglich ist. Das bedeutet also neue Hoffnung für Menschen, die von der schweren Form dieser Erkrankung betroffen sind.“
Setzen Sie diesen Gamechanger auch schon ein?
„Ja, ich denke jetzt gerade an einen Patienten mit einer schweren Epilepsie, bei dem wir mehrere Medikamente ausprobiert haben, die aber nicht geholfen haben. Er durfte nur noch mit Sturzhelm aus dem Haus, um sich vor Verletzungen bei Anfällen zu schützen. Jetzt nimmt er das neue Medikament – und ist anfallsfrei.“
Am 5. Oktober ist Tag der Epilepsie. Der Landesverband Epilepsia Berlin-Brandenburg e.V. veranstaltet zusammen mit dem Zentrum für Epilepsie am Vivantes Humboldt-Klinikum einen Patientennachmittag: „Epilepsie: Wir schreiben Geschichte"
6. Oktober, 16.30 Uhr – 19.00 Uhr
Klinik für Neurologie - Stroke Unit - Zentrum für Epilepsie am Vivantes Humboldt-Klinikum
Haupteingang, 1. OG, Raum 3301 (Bibliothek)
Am Nordgraben 2, 13509 Berlin-Reinickendorf