Schnellere Erholung nach Bauch-OP mit ERAS: Wenn die Chirurgie wissenschaftliche Erkenntnisse umsetzt
Körper im Gleichgewicht - vor, während und nach OP
Heute gibt es ERAS („Enhanced Recovery after Surgery“). Dank vieler evidenzbasierter Therapieansätze können sich Patient*innen auch nach größeren Eingriffen schneller und besser erholen. Und schneller wieder nach Hause.
Neue wissenschaftliche Erkenntnisse im Klinikalltag angewandt – sie helfen dem menschlichen Organismus dabei, eine Operation besser und schneller zu verkraften und die Selbstregulierung des Körpers zu aktivieren. Das ist der Grundgedanke von ERAS: Das Gleichgewicht des Körpers vor, während und nach einem operativen Eingriff möglichst wenig zu stören und Stress zu reduzieren (siehe auch Infokasten weiter unten).
Chefarzt im Interview
Vorreiter hierbei ist die Visceralchirurgie im Vivantes Klinikum Spandau, zusammen mit den chirurgischen Abteilungen anderer Vivantes-Standorte wie dem Klinikum im Friedrichshain und dem Humboldt-Klinikum in Reinickendorf. Was sich für Patientinnen und Patienten dadurch geändert hat, erläutert der Chefarzt der visceralchirurgischen Klinik im Spandauer Klinikum, PD Dr. Christoph Benckert, im Interview.
Herr PD Dr. Benckert, im Klinikum Spandau haben Sie zusammen mit Mitarbeitenden aus anderen Fachdiszplinen das „ERAS“-Konzept eingeführt. Können Menschen nach einer OP bei Ihnen nun tatsächlich früher wieder nach Hause?
PD Dr. Christoph Benckert: „Ja, tatsächlich erholen sich unsere Patientinnen und Patienten schneller und besser nach einer Bauch-OP. Auch nach größeren Eingriffen können sie nun oft schon nach vier oder fünf Tagen nach Hause. Früher waren sie häufig doppelt so lange bei uns im Klinikum. Studien zeigen, dass die Liegedauer in Zentren, die ERAS anwenden, um durchschnittlich 2,4 Tage verkürzt wurde. Und dabei wenden viele andere Zentren weniger als 50% der empfohlenen Maßnahmen an. Das zeigt auch: Bei uns hat das Konzept bisher sehr gut funktioniert.“
Stress durch OP reduzieren
Wie kann denn durch so ein Konzept die Zeit im Krankenhaus so viel verkürzt werden?
PD Dr. Christoph Benckert: „Durch eine ganz neue Herangehensweise: Durch ERAS schaffen wir es, den Stress für eine Patientin oder einen Patienten vor, während und nach einer Bauch-OP gering zu halten. Wir wollen das Gleichgewicht der physiologischen Körperfunktionen (Homöostase) möglichst wenig stören, damit der Organismus sich selbst besser regulieren kann.“
Kostaufbau schon am Tag des Eingriffs
Erklären Sie uns das genauer, vielleicht am Beispiel Essen. Stimmt es, dass man vor und nach einer Bauch-OP essen darf - und sogar sollte? Früher sollten die Betroffenen doch oft tagelang nüchtern bleiben…
PD Dr. Christoph Benckert: „Das sollten wir heute vermeiden. Die Patienten dürfen bis zu zwei Stunden vor der Operation zuckerhaltige Getränke zu sich nehmen, und der postoperative Kostaufbau beginnt bereits am Tag der Operation.“
Keine Übelkeit mehr nach OP
Wichtig ist dabei auch: Wir versuchen, bei der Behandlung von Schmerzen nach der Operation weitgehend ohne klassische Opiate auszukommen. Denn Opiate lösen oft Übelkeit aus. Stattdessen kümmert sich unsere ERAS-Nurse – eine speziell ausgebildete Pflegekraft – und verabreicht moderne Schmerzmedikamente, bei denen die Nebenwirkungen deutlich abgemildert sind, ohne dass der starke schmerzstillende Effekt der Opiate verlorengeht. Dann wird den allermeisten auch nicht übel. Das macht den so genannten frühen Kostaufbau natürlich viel einfacher, also das Essen.“
Wie kann es klappen, nach einem so großen Eingriff im Bauchraum noch am selben Tag aufzustehen?
PD Dr. Christoph Benckert: „Heute weiß man: Wer operiert wird, soll möglichst schnell wieder körperlich aktiv werden. Das Fitnesslevel soll nicht so stark durch lange Bettruhe sinken. Am Tag der OP kommt eine Krankengymnast*in zu den Patient*innen und macht mit ihnen erste Schritte vor dem Bett. Das ist auch möglich, weil wir auf Drainagen, Harnblasenkatheter und Magensonden nach der Operation verzichten. Und auch, weil wir keine „Beruhigungspille“ vor einer Operation verabreichen, die ja dämpft und nach dem Eingriff „schwummerig“ machen kann. Ganz entscheidend ist aber vor allem auch die Narkoseführung durch unsere Anästhesisten.“
Auch andere Narkose hilft, schneller auf die Beine zu kommen
Was hat sich denn bei der Narkose geändert?
PD Dr. Christoph Benckert: „Begleitend zur Narkose gibt es in der Regel keine Rückenmarks- oder Periduralanästhesie mehr, sondern unsere Anästhesist*innen spritzen ultraschallgestützt ein lokales Anästhetikum ins seitliche Bauchfell und blockieren so die Nerven in der Bauchwand („TAP-Block“). Dieses Anästhesieverfahren ist kreislaufschonender, weil durch den Verzicht auf die rückenmarksnahe Betäubung das Blut weniger in den Beinen „versackt“. Bisher hat die Schmerztherapie durch Rückenmarkskatheter die natürliche Regulation der Blutgefäße im gesamten Unterkörper mit Beinen quasi lahmgelegt. Da das jetzt nicht mehr so ist, können unsere Patientinnen und Patienten viel schneller wieder aufstehen. Das ist wirklich ganz entscheidend für eine schnellere Genesung.“
Gegen die Angst: Patient*innen persönlich kennenlernen
Was ist mit dem psychischen Stress einer OP? Wenn es jetzt auch keine „Beruhigungspille“ mehr gibt?
PD Dr. Christoph Benckert: „Wir kümmern uns intensiv um die Patienten schon vor einer OP und klären sie nicht nur über die Operation, sondern über den gesamten perioperativen Verlauf auf. Wer operiert wird, lernt nicht nur die Ärzt*innen, sondern die Pflegenden, die Ernährungsmediziner*innen und Physiotherapeut*innen kennen und weiß so, was ihn oder sie erwartet. Das reduziert die Angst ganz erheblich.“
Für welche Patient*innen gibt es ERAS bei Ihnen?
PD Dr. Christoph Benckert: „Wir wenden das Konzept bei fast allen Patienten an, die minimalinvasiv im Bauchraum operiert werden. Zuerst haben wir ERAS in der Dickdarmchirurgie eingeführt, inzwischen praktizieren wir es beispielsweise auch bei Bauchspeicheldrüsen-OPs und Eingriffen an der Leber.
Aber auch Patienten, die als Notfall zu uns kommen, profitieren von ERAS, denn wir haben viel dazugelernt und unsere Abläufe insgesamt hinterfragt und vieles geändert.“
Manchmal verschieben wir eine OP auch, wenn unsere Expert*innen der Ernährungsmedizin dazu raten, weil jemand mangelernährt ist und erst einmal „aufgepäppelt“ werden muss, um die OP dann gestärkt in die Operation zu gehen.
Ernährungsmedizin und ERAS Nurse machen den Unterschied
Was sind die „Game Changer“ für eine schnellere und bessere Erholung?
PD Dr. Christoph Benckert: „Nicht wegzudenken ist unsere ERAS-Nurse. Das ist eine speziell ausgebildete Pflegekraft, die sich um unsere Patient*innen kümmert und dafür sorgt, dass die Koordination zwischen den einzelnen Fachdisziplinen reibungslos funktioniert.
Vor OP aufpäpplen
Sehr wichtig sind auch unsere Ernährungsmediziner*innen, die unsere Patient*innen immer vor einem Eingriff sehen. Manchmal verschieben wir eine OP auch, wenn unsere Expert*innen der Ernährungsmedizin dazu raten, weil jemand mangelernährt ist und erst einmal „aufgepäppelt“ werden muss, um die OP dann gestärkt in die Operation zu gehen. Auch eine häufig vor einer Operation diagnostizierte Blutarmut kann zum Beispiel durch präoperative Eiseninfusionen frühzeitig behandelt werden.“
Warum ERAS Teamwork ist
Was ist Ihrer Meinung nach absolut wichtig, wenn ein Krankenhaus ERAS einführen will?
PD Dr. Christoph Benckert: „Erfolgreich ist ERAS dann, wenn man viele Punkte umsetzt und diese fach- und klinikübergreifend in einer Arbeitsgruppe gemeinsam einführt. Wenn beispielsweise die Anästhesie nicht dazu bereit gewesen wäre, die Narkosetechnik umzustellen, hätten wir ERAS nicht so erfolgreich einführen können. Wenn ein Klinikum ERAS einführt, kann das nicht die Chirurgie alleine beschließen. ERAS ist Teamwork.“
ERAS ist ein umfassendes, multimodales Behandlungskonzept vor, während und nach der Operation. Es steht für „Enhanced Recovery after Surgery“, was übersetzt „Verbesserte Erholung nach chirurgischen Operationen“ bedeutet. Wissenschaftliche Studien führten zu Empfehlungen für evidenzbasierte Therapieansätze. Dadurch sollen Patient*innen nach Eingriffen im Bauchraum möglichst schnell zu ihrer normalen körperlichen Aktivität zurückkehren und die Auswirkungen von Stressreaktionen nach OPs sollen möglichst gering bleiben.
Durch die Maßnahmen kann sich der Körper schneller regenerieren und so können Patient*innen die Klinik auch nach großen Eingriffen oft schon nach 4 oder 5 Tagen wieder verlassen.