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Harninkontinenz: Wenn das Kind nicht trocken wird

Bis zum 5. Lebensjahr werden Kinder trocken. Wenn sie später noch regelmäßig einpullern, sollte das beim Kinderarzt angesprochen werden. Über Formen der Harninkontinenz bei Kindern und was dagegen hilft, spricht Dr. Ute Mendes, Leiterin Sozialpädiatrisches Zentrum am Vivantes Klinikum im Friedrichshain, im Interview.

Frau Dr. Mendes, manche Kinder scheinen das Pullerngehen oft zu vergessen und nässen in der Folge ein. Was steckt dahinter?

Diese Kinder merken eigentlich, dass sie müssen, gehen aber nicht. Gründe können sein, dass sie Angst haben, etwas zu verpassen oder ihnen etwas anderes wichtiger ist. Das erlebe ich mittlerweile oft, wenn Kinder an Geräten wie Tablets oder Handys sitzen. In der Folge nässen die Kinder ein, weil sie es nicht mehr rechtzeitig zur Toilette schaffen. Typisch ist, dass diese Kinder selten zur Toilette gehen und dann große Urinmengen haben. Der Fachausdruck für diese Form von Harninkontinenz lautet Miktionsaufschub.

Was hilft?

Kinder mit Miktionsaufschub müssen regelmäßig auf die Toilette geschickt werden. Und das bedeutet, dass das Kind nicht nur gefragt wird "Müsstest Du nicht mal auf's Klo?", sondern wirklich geschickt wird mit "Bitte geh jetzt auf's Klo!". Diese Schickzeiten sollten sich am Tagesablauf orientieren und etablieren, so dass das Kind lernt, diese Zeiten selbst einzuhalten.

Wie oft sollten Kinder denn tagsüber auf Toilette gehen?

5 bis 7 Mal sollten Kinder im Laufe des Tages Urin lassen.

Woran liegt es, wenn ein Kind deutlich öfter als 7 Mal am Tag auf Toilette geht?

Dann kann es sich um eine so genannte Dranginkontinenz handeln. Ich erkläre das gern auch mit einer "Prinzessinnenblase". Normalerweise lässt sich die Blase wie ein Luftballon passiv füllen. Wenn das nicht funktioniert, kommt es zu Kontraktionen während der Füllungsphase und das Kind spürt einen Harndrang, den es nicht halten kann. Dann muss es jetzt gleich sofort auf Toilette. Eltern beschreiben oft, dass sich das Kind gerade in Matschhose, Winterjacke, Stiefel und so weiter eingepackt und die Mutter vor dem Anziehen gefragt hat, ob das Kind erst nochmal auf's Klo müsse… Eltern denken dann manchmal fälschlicherweise, die Kinder machen das mit Absicht.

Das strapaziert zwar das Nervenkostüm der Eltern, aber es tröstet wahrscheinlich zu wissen: Das Kind macht das nicht absichtlich?

Genau! Ist das Kind 5 Jahre oder älter, pullert täglich öfter als 7 Mal und dann nur kleine Urinmengen, kann das an dieser Funktionsstörung liegen. Die Dranginkontinenz lässt sich aber behandeln.

Auf keinen Fall ein Herauszögern des Toilettengangs trainieren

Wie sieht die Therapie aus?

Diese Form von Harninkontinenz ist die einzige, die sich auch mit medikamentöser Unterstützung behandeln lässt. Das Medikament hilft, die glatte Muskulatur in der Blasenwand zu entspannen. Gleichzeitig muss mit dem Kind aber auch geübt werden, dass es den Harndrang wahrnimmt und bei Harndrang sofort zur Toilette geht. Bitte auf keinen Fall ein Herauszögern des Toilettengangs trainieren. Das ist kontraproduktiv und kann die Symptomatik sogar verschlechtern.

Gibt es noch andere Formen der Harninkontinenz?

Es gibt Kinder, die pressen beim Wasserlassen. Dann kommt der Urin nicht als Strahl, sondern portionsweise und es bleibt häufig Rest-Urin in der Blase. In der Folge kommt es häufig zu Blasenentzündungen. Ursache ist eine dyskoordinierte Miktion.

Wie kommt es zu dieser Funktionsstörung?

Die Muskeln, die an der Blasenentleerung beteiligt sind, arbeiten nicht koordiniert. Normalerweise ist es so: Der Detrusor-Muskel in der Blasenwand spannt sich an und drückt den Urin aus der Blase. Der Schließmuskel ist entspannt. Bei einer dyskoordinierten Miktion ist auch der Schließmuskel der Blase angespannt und lässt den Urin nicht raus.

Lassen sich die Blasenmuskeln trainieren, dass sie korrekt arbeiten?

Ja. In einer spezialisierten Physiotherapie oder mit einem Biofeedback-Training. Dabei lernt das Kind, wie die Entspannung des Beckenbodens funktioniert.

Über das Einnässen in der Familie und im Umfeld sprechen: Worauf kommt es dabei an?

Wichtig ist, dass sehr offen darüber in der Familie und mit den Bezugspersonen wie beispielsweise Erzieher*innen oder Lehrer*innen gesprochen wird. Ob Pullern, Pieseln oder Urin lassen: Es müssen Worte dafür gefunden und genutzt werden. Außerdem müssen Eltern, Ärzt*innen und Therapeut*innen mit dem Kind sprechen und nicht nur mit den Eltern. Das Kind muss selber wissen, wie die Niere, die Blase und das Wasserlassen funktionieren. Das kann man kindgerecht erklären. Ich nutze beispielsweise gern das Bild des Blasentelefons.

Das Blasentelefon, wie funktioniert das denn?

Wenn sich die Blase mit Urin füllt, ruft sie im Gehirn an, dass sie voll ist, dass man auf's Klo gehen muss. Je nach Form der Harninkontinenz ruft die Blase in verschiedenen Momenten beim Gehirn an. Die Prinzessinnenblase ruft immer ganz früh an. Bei Kindern mit Miktionsaufschub ruft die Blase im Gehirn an, aber das Gehirn geht nicht ran. Das ist doof und dann läuft die Blase über. Nach meiner Erfahrung verstehen die Kinder die Funktionsweise der Blase mit diesem Bild sehr gut und können diese dann viel leichter trainieren.

Das heißt also auch, eine Harninkontinenz bei Kindern ist behandelbar?

Ja, unbedingt. Einnässen lässt sich in der Regel leicht und erfolgreich behandeln.