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Nähe tut gut: Wie wir mit sozialer Distanz umgehen können

Das Zusammensein mit anderen tut uns gut. Gilt es soziale Distanz einzuhalten, fehlt etwas oder geht verloren. Was macht das mit uns, wie gehen wir damit um? Das erläutert Chefarzt Professor Dr. Andreas Bechdolf von Vivantes.

Vom Zusammensein und Abstandhalten

Stellen Sie sich vor, Sie liegen auf einer Wiese. Eine Hand – oder ist es der Wind? – streicht sanft über Ihr Gesicht. Die Sonne wärmt Sie, und neben Ihnen erzählt der Freund fröhlich vom gestrigen Grillabend. Was für ein angenehmes Gefühl! Zusammensein.

Der Sommer kommt, und die Covid-Pandemie scheint in weite Ferne gerückt. Auf jeden Fall so weit, dass man sich im Privaten wieder mit anderen treffen kann. In den vergangenen Monaten war das nicht immer so – viele Menschen berichten darüber.

Von einer Zeit, in der persönliche Freiräume eingeschränkt waren und es galt, die Gesundheit noch mehr als sonst zu schützen – Abstand zu halten. Die Folge war, dass man mehr Stunden in den eigenen vier Wänden oder alleine verbrachte. Das fiel nicht immer leicht, den ein oder anderen beschlich eine Stimmung, die sich schwer einordnen ließ. Dieses starke Gefühl ging buchstäblich unter die Haut, löste starke Empfindungen aus und wühlte auf – was war da los?

Fehlende soziale Nähe kann Stress auslösen

„Grundsätzlich brauchen wir alle soziale Nähe“, erläutert Professor Dr. Andreas Bechdolf, Chefarzt der Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Vivantes Klinikum Am Urban  und im Vivantes Klinikum im Friedrichshain. „Wir brauchen gesellschaftliche Kontakte fürs Wohlbefinden, und wenn diese rar sind, weil wir etwa in Quarantäne oder aus anderen Gründen Distanz halten müssen, dann ist es herausfordernder, für die seelische Stabilität zu sorgen.“ Dabei hängt eine stabile Gemütslage mit einem ausgeglichenen Transmitterhaushalt zusammen – also der Zusammensetzung und Menge an Botenstoffen, die ausgeschüttet werden.

„Serotonin, Dopamin und Noradrenalin sind beispielsweise für die Stimmung zuständig. Wenn wir weniger soziale Unterstützung haben, können sie unausgeglichen oder eben nicht so vorhanden sein. Dann kann es sein, dass wir vielleicht ängstlicher sind als sonst“, erklärt Prof. Bechdolf. Auch ein gestörter Schlaf oder eine gesteigerte Streitbereitschaft können eintreten.

 

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Wir brauchen gesellschaftliche Kontakte fürs Wohlbefinden, und wenn diese rar sind, weil wir etwa in Quarantäne oder aus anderen Gründen Distanz halten müssen, dann ist es herausfordernder, für die seelische Stabilität zu sorgen. Man sollte reflektieren und akzeptieren, dass es im Moment so ist und zum Leben dazugehört.

Chefarzt der Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Vivantes Klinikum im Friedrichshain und Vivantes Klinikum Am UrbanProfessor Dr. Andreas Bechdolf

Vom Knuddel-Ersatz und Spaß haben

Um soziale Distanz und damit einhergehende, fehlende Berührungen zu ersetzen, findet man in den Medien zahlreiche Vorschläge. So wird etwa empfohlen, Bäume zu umarmen, um das Gefühl der Isolation zu überwinden. Eine weitere Möglichkeit ist, einfach mal seinen Hund so richtig zu knuddeln. Dabei wird das – oftmals als Glückshormon bezeichnete – Oxytocin ausgeschüttet. Das wirkt sich positiv auf die Seele aus. Auch Übungen, wie Yoga, in der Kuscheldecke eingerollt ein Buch lesen oder die Lieblingsserie anschauen, können helfen, die Stimmung aufzuhellen.

„Viele Dinge habe ich selbst in der Hand, um andere Ressourcen als soziale Nähe zu nutzen“, sagt Prof. Bechdolf. „Um sie zu kompensieren, bieten sich unter anderem angenehme Aktivitäten an.“ Denn auch wenn man die gute Freundin nicht in den Arm nehmen kann, lässt sich der Kontakt aufrechterhalten: etwa per Video-Call oder mit einem vertrauten Telefonat. Körperliche Bewegung ist zusätzlich hilfreich, um die Gemütslage zu stabilisieren. Und es ist essenziell, Spaß zu haben.

Das Bewusstsein für Berührung schulen

Es gibt auch digitale Angebote, die dabei unterstützen, fehlende Streicheleinheiten zu kompensieren. Ein Beispiel ist die App „HandsOn“: Mit ihr lässt sich die Vorstellungskraft von Berührung trainieren. Die digitale Anwendung bietet Videos mit Expert*inneninterviews und Hintergrundinformationen. Dazu führen Nutzer*innen ein Tagebuch, um unter anderem die eigenen Erfahrungen zu dokumentieren. Die Anwendung soll dazu verhelfen, mehr über die neuesten Forschungsergebnisse zur Kraft der Berührung zu erfahren, den Sinn dafür zu schärfen und den wohltuenden Einfluss von Berührung auf das eigene Wohlbefinden zu verfolgen.

Aktiv sein, reflektieren und akzeptieren

Wenn nun aber im Herbst die Infektionszahlen so steigen, dass Maßnahmen, in denen Begegnungen mit Menschen eingeschränkt sind, wieder notwendig werden? Dann könnte man bewusst auf einige der beschriebenen Aktivitäten setzen. Im Umgang mit sozialer Distanz und einem damit verbundenen Unwohlsein rät Prof. Bechdolf außerdem: „Nach meinen Erfahrungen ist es zunächst einmal wichtig, die Situation anzunehmen. In einer Zeit wie der Corona-Pandemie kann es zu stärkeren emotionalen Reaktionen kommen, als wir es gewohnt sind.“

Manchen Menschen fällt es schwer, das zu akzeptieren, und dann fühlt sich die Person unter Umständen schlecht, weil es ihm oder ihr nicht gut geht. „Ich empfehle, sich selbst zu reflektieren, die Stimmung möglichst stabil zu halten und anzuerkennen, dass es eben ein Thema für uns ist.“ Nicht zuletzt wirkt es sich positiv aus, sich an gute Zeiten zu erinnern. Und da wären wir gedanklich wieder auf der Wiese in der Sonne: tief durchatmen, ihren Duft wahrnehmen, die Wärme spüren und – genießen.

 
Resilienz

Resilienz meint die Anpassungsfähigkeit, schwierige Situationen ohne anhaltende Beeinträchtigungen zu überwinden. Resilienz steht für eine psychische Widerstandskraft, die von den eigenen Ressourcen, also Fähigkeiten und Kompetenzen, unterstützt wird.

Dieser Artikel ist auch im Vivantes Magazin Ausgabe 2/2022 erschienen.