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Tipps einer Psychologin: Krisen – so werden wir stärker

Krisen können uns aus dem Gleichgewicht bringen: Inflation, Angriffskrieg auf die Ukraine, Inflation, Klimawandel, Corona und mehr. Doch wir können daran wachsen – durch unsere eigene Kraft. Eine Berliner Psychologin von Vivantes erklärt, wie das geht.

Krisen über Krisen - Menschen reagieren unterschiedlich

Krisen setzen uns unter Stress, weil wir das Gefühl haben, die Kontrolle über unser Leben zu verlieren. Doch wir können auch Ausnahmesituationen ins Gegenteil verkehren und letztlich Stärke daraus ziehen.

Da ist eine Menge zusammengekommen in den vergangenen Jahren: Coronapandemie, Flutkatastrophe, Angriffskrieg auf die Ukraine, Energieunsicherheit, Inflation, Krankheitswellen, dazu der globale Klimawandel und viele Schutzsuchende. Es vergeht kaum ein Tag ohne beunruhigende Nachrichten. Aus Ausnahmezuständen ist gefühlt längst eine Dauerkrise geworden. Sie verändert unsere Lebensumstände, wirft uns aus der Bahn – schürt Unsicherheit und Angst.

Menschen reagieren unterschiedlich auf diese Situation. Viele sind verzweifelt, fühlen sich hilflos und resignieren. Manche glauben, nicht mehr die Kapazitäten zu haben, sich um alle Krisen zugleich zu kümmern. Sie nehmen eine Opferrolle ein, schreiben anderen die Schuld für ihre missliche Lage zu und ziehen sich zurück. Andere verfolgen bis tief in die Nacht die News im Internet, Fernsehen oder Radio, kommen nicht zur Ruhe, diskutieren engagiert im Freundeskreis und am Arbeitsplatz. Eine weitere Gruppe versucht sich abzulenken, fährt in den Urlaub, geht shoppen oder verbringt ihre Abende in teuren Restaurants.

Gesellschaft in der Erschöpfungsdepression

Die Medien sprechen von einer „Gesellschaft in der Erschöpfungsdepression“. Es geht darum, eine Balance zu finden zwischen Hedonismus, politischem Aktivismus, Ignorieren oder Mitfühlen. Der Ton wird rauer Persönlicher Stress entlädt sich aktuell immer häufiger im gesellschaftlichen Miteinander.

Die Verunsicherung macht Angst, und um die zu kompensieren, nimmt aggressives Verhalten zu. Wir spüren das täglich: beim Einkaufen, im Straßenverkehr oder im privaten Umfeld. Schon Kleinigkeiten führen oft zu Streit. Anderen zuzuhören fällt vielen schwer, sie zu verstehen oder abweichende Meinungen zumindest zu respektieren ebenfalls.

Sich nicht mehr zusammenreißsen können: "Anger Out"

Wut, Frust und negative Emotionen werden schon mal ungefiltert rausgelassen, der Ton ist gereizt und rauer geworden. Wissenschaftler*innen, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, verwenden dafür den Begriff „Anger Out“. Und sie gehen davon aus: Ein einfaches Sichzusammenreißen wird nicht funktionieren, weil bei den meisten die psychische Widerstandskraft aufgebraucht ist.

Resilienz – das steckt dahinter

„Doch es gibt Möglichkeiten, Krisen auszuhalten und zu bewältigen. Und nicht nur das: Wir können auch an ihnen wachsen und in der Gegenwart sowie für die Zukunft mehr Mut und Zuversicht entwickeln“, sagt Prof. Dr. Andreas Bechdolf, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Vivantes Klinikum Am Urban sowie der gleichnamigen Klinik im Vivantes Klinikum im Friedrichshain. Er verweist auf die psychische Widerstandsfähigkeit eines jeden Menschen, die Resilienz. Sie hilft uns dabei, problematische und bedrohliche Situationen zu bewältigen.

Der Begriff ist heute fast schon ein Lifestyle-Thema, ein populäres Schlagwort, das zahlreiche Ratgeberbücher, Kurse und Coachings hervorgebracht hat. Das mindert indes nicht ihre Wirksamkeit. Interessant zu wissen: Ursprünglich entstammt der Begriff der Warenkunde. Werkstoffe mit einer besonderen Elastizität gelangen trotz starker Druckausübung immer wieder in ihren Ursprungszustand zurück. Übertragen auf den Menschen, befähigt die Resilienz, nach einer Leidensphase wieder in eine angenehmere Lebenssituation zu finden.

Gute Voraussetzungen

Eine Reihe von Faktoren verstärkt die Resilienz. Dazu gehören Optimismus, Religiosität und Spiritualität sowie ein starkes soziales Netzwerk. Auch ein gutes Selbstwertgefühl, das regelmäßige Erleben positiver Gefühle und die grundsätzliche Haltung, Stressauslöser als Herausforderung zu empfinden und Situationen als kontrollierbar wahrzunehmen, zählen dazu.

Erste Schritte aus der Krise

Erste wichtige Schritte auf dem Weg aus der Krise: das Problem erkennen, die Situation akzeptieren und den festen Willen fassen, aktiv zu werden und etwas in dem Rahmen zu verändern, in dem man selbst Einfluss nehmen kann. Dem im Weg steht oft die eigene Betroffenheit – man fühlt sich hilflos, ausgeliefert und entwickelt die erwähnte Opfermentalität: „Mich trifft es besonders schlimm.“

Wie gelingt es uns im täglichen Leben, mitten im Krisenmodus, die Resilienz zu erwecken, um unsere psychische Gesundheit zu stärken? Um mithilfe eigener Ressourcen Mut, Stärke und Zuversicht zu entwickeln? „Zunächst ist es wichtig, für sich zu klären: Wie definiere ich psychische Gesundheit? Und was ist eine gesunde Reaktion auf eine ungesunde Situation?“, empfiehlt Dr. Anja Lehmann, Leitende Psychologin und Kollegin von Professor Andreas Bechdolf. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die Akutpsychiatrie.

 
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Es gehört Mut dazu, Angst zu haben. Erst durch Angst ist Mut möglich, und durch Schwäche erwächst Stärke, etwa der Mut, gut für sich zu sorgen und die Angst zu überwinden, man sei zu schwach.

Leitende Psychologin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Vivantes Klinikum Am UrbanDr. phil. Dipl.-Psych. Anja Lehmann

Aus ihrer Sicht ist es in einem Zustand der Ungewissheit nachvollziehbar, nachts nicht zur Ruhe zu kommen, sich Sorgen zu machen und Stimmungsschwankungen zu unterliegen. Die Psychologin sagt: „Man sollte seine psychische Reaktion auf die Krisensituation nicht ohne Notwendigkeit pathologisieren. Niemand ‚ist schuld‘ an seinen Gefühlen, diese sind erst mal nicht mehr und nicht weniger als das – Gefühle. Eine natürliche Reaktion auf das, was passiert. Es ist angemessen, verunsichert und auch erschöpft zu sein. Erst durch Angst ist Mut möglich, und durch Schwäche erwächst Stärke, etwa der Mut, gut für sich zu sorgen und die Angst zu überwinden, man sei zu schwach.“

Erinnerungen sind hilfreich

Ein Blick zurück lohnt: Welche Herausforderungen habe ich schon bewältigt? Was hat mir dabei geholfen? Welche Erkenntnisse habe ich gewonnen? Wie ist es mir bisher gelungen, schmerzhafte Lebensphasen zu überwinden? Was war mir vor drei Jahren wichtig? Was ist weniger essenziell, was hat an Bedeutung gewonnen?

Für Dr. Anja Lehmann ist diese Rückschau eine bewusste Entscheidung, die zeigt: „Ich akzeptiere, dass es Entwicklungen gibt, die ich nicht beeinflussen und kontrollieren kann. Die mich auf mich selbst zurückwerfen und mir damit aber auch die Chance eröffnen, in mir angemessener Weise darauf zu reagieren. Mit Ängstlichkeit und Vorsicht, aber auch mit Mut und Zuversicht. Den Blickwinkel zu verändern kostet zunächst Überwindung, manchmal gelingt das nicht allein, nicht ohne Hilfe. Am Ende aber liefert er wertvolle Einsichten.“

Hilfe annehmen und geben

Auch der Austausch mit anderen trägt dazu bei, Kraft und Hoffnung zu entwickeln. Dr. Anja Lehmann: „Das Miteinander stärkt ungemein! Dabei ist besonders die Hilfe für andere eine Quelle für Energie und Resilienz, die oft unterschätzt wird. Vieles schafft man nicht allein, dafür aber gemeinsam.“

Als anschauliches Beispiel aus der Praxis führt sie ein Ritual aus der regelmäßigen Teamsitzung der akutpsychiatrischen Station im Klinikum Am Urban an: Am Schluss des Treffens resümieren alle Teilnehmenden kurz, was bei ihnen in den letzten Tagen gut gelaufen ist. Zunächst sei das schwergefallen, es fühlte sich „irgendwie komisch“ an, berichtet Dr. Anja Lehmann. Mittlerweile werde die Gewohnheit wert - geschätzt, alle verlassen die Besprechung mit etwas mehr Mut. „Unser Gehirn fokussiert sich gewohnheitsmäßig auf negative Dinge. Dagegen hilft nur, ganz bewusst gegenzusteuern und sich positive Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen. Das erfordert zunächst einige Übung, die sich schlussendlich aber auszahlt.“

Pausen, Entspannungsübungen, Dankbarkeits-Tagebücher

Im Alltag helfen dabei auch technische Hilfsmittel: Etwa ein Klingelton vom Handy für einen kurzen Break, eine Meditationspause oder ein Durchatmen an frischer Luft, eine Entspannungsübung über Kopfhörer. Nützlich sind beispielsweise auch „Dankbarkeits- und Positiv-Tagebücher“, in denen man Situationen festhält, die gute Energie vermittelt haben. Sie helfen, sich auch später noch daran zu erinnern. Bei allem spielt das soziale Miteinander eine große Rolle: Ein nachsichtiger und freundlicher Umgang mit anderen Menschen, geprägt durch Empathie, Verständnis und die Bereitschaft, von - einander zu lernen, ist ein Grundstein für die Entwicklung eigener Stärke und Kraft – und hilft uns, Krisen zu meistern.

 

Der Artikel ist auch die Titelgeschichte des Vivantes Magazins gesund!, Ausgabe 1/2023.