Veröffentlicht am

Geschlechtsinkongruenz – Geschlechtsidentität – Geschlechtsangleichung: Max ist Marie

Für Eltern ist es zunächst ein Schock, wenn ihr Kind in dem Gefühl lebt, mit dem falschen Körper geboren worden zu sein.

Geschlechtsinkongruenz – Geschlechtsidentität – Geschlechtsangleichung: Was Dr. Tobias Pottek, Chefarzt für rekonstruktive Urologie und Geschlechtsinkongruenz in der Klinik für Urologie am Vivantes Klinikum Am Urban, Eltern in einer solchen Lebenslage rät, lesen Sie im Folgenden.

Geschlechtsidentität: Sohn fühlt sich als Mädchen

Robert und Britt erinnern sich: Ihr Sohn Max zeigte schon als Dreijähriger wenig Interesse an Playmobil, spielte lieber mit seiner älteren Schwester Lilli mit dem Kaufladen und der kleinen bunten Holzküche, ging zum Turnen statt auf den Fußballplatz. "Ungewöhnlich fanden wir das anfangs nicht. Wir wollten unseren Kindern auch nichts aufzwingen, was sie nicht selber wollten", sagt der 42-jährige Sozialarbeiter aus Brandenburg.

In der Schule gab es dann die ersten Probleme – Max fiel auf. Er ließ sich die Haare wachsen, trug verspielte Haarspangen und bestand im Schwimmunterricht auf einen Badeanzug. Zunehmend zog er sich zurück, klagte über Bauchschmerzen, wollte nicht in die Schule gehen.

Trotzdem brauchte es noch einen gedanklichen Anstoß, erzählt die 39-jährige Britt, die als Arzthelferin arbeitet: "Eine Bekannte berichtete über ein ähnliches Verhalten der inzwischen erwachsenen Tochter eines ehemaligen Kollegen. Die war mit männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren worden und hatte sich diese vor einigen Jahren operativ an weibliche Genitalien anpassen lassen."

Da sei bei ihr der Groschen gefallen: "Ich bin auf Max zugegangen und habe lange mit ihm gesprochen. Wie er sich fühlte, was ihn quälte, was er sich wünschte. Es war eindeutig: Max fühlte sich als Mädchen."

Geschlechtsinkongruenz – ärztlicher Rat hilft weiter

Chefarzt Dr. Tobias Pottek erklärt: "Max ist als Mädchen zur Welt gekommen, sein Körper aber ist männlich. Die Weltgesundheitsorganisation stuft Transsexualität – der Begriff wechselte vorübergehend zu 'Transidentität', anschließend zu 'Transgender', jetzt ist 'Geschlechtsinkongruenz' gebräuchlich – als Geschlechtsidentitätsstörung ein." Mit der sexuellen Orientierung der Betroffenen hat das aber laut Dr. Pottek nichts zu tun.

"Sie sind auch keine Zwitter, die nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden können. Transsexuelle sind entweder Mann oder Frau. Doch die körperliche Identität stimmt nicht mit der seelischen überein. Woher diese Diskrepanz rührt, ist wissenschaftlich nicht geklärt. Es ist aber keine Störung, nichts Unnormales oder Krankhaftes, sondern eine Variante des Normalen", so der Fachmann.

Dass Max’ Eltern ihren Sohn nicht zu geschlechtsbezogenem Spielen und Verhalten gedrängt haben, bewertet Dr. Tobias Pottek positiv: "Transsexuell zu sein sucht man sich nicht aus, man ist es einfach. Daran ändert sich nichts – egal, was man unternimmt. Unterdrückt man Kinder in ihrer Geschlechterrolle, dann lernen sie, eine 'verkehrte' Rolle zu spielen. Denn jedes Kind möchte seinen Eltern gefallen. Dieser Druck des Umfelds belastet ungemein, das Kind leidet. Als Erwachsene erlebe ich diese Menschen in meiner Praxis: Sie haben geschlechtertypische Berufe erlernt, Familien gegründet, Kinder gezeugt oder ausgetragen, aber irgendwann können sie diese Rolle nicht mehr spielen. Es folgt dann oft das späte Outing."

Lange Reise mit Betreuung

Robert und Britt versuchen, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass aus dem Sohn Max die Tochter Marie werden könnte. Das fällt beiden schwer, und es schmerzt. Sie befinden sich mit dem jetzt knapp Zehnjährigen am Anfang einer Reise, von der niemand weiß, wie und wann sie endet.

  • Ihnen zur Seite steht ein Kindertherapeut, der mit dem Thema vertraut ist.
  • Max wird psychologisch und psychiatrisch betreut, Endokrinolog*innen, also Hormon-Expert*innen, werden hinzugezogen.

Noch ist keine verbindliche Diagnose gestellt worden, die weitere Behandlungsschritte auch rechtlich und finanziell absichert.

Ratschlag für Eltern und Selbsthilfegruppe

Dr. Tobias Pottek sieht sich als "Handwerker" und in der langen Reihe der Behandlungen transsexueller Menschen am Ende stehend: "Ich passe die Genitalien dem gefühlten und dann auch gelebten Geschlecht an." Betroffenen Eltern rät er: "Unterstützen Sie Ihr Kind, nehmen Sie es ernst. Hilfreich ist der Besuch einer Selbsthilfegruppe. Denn Sie treffen dort auf Väter und Mütter, die ähnlichen Herausforderungen gegenüberstehen oder sie bereits bewältigt haben. Sie können sich austauschen und voneinander lernen."

Service-Info

Wenn Sie mehr über das Thema "Geschlechtsinkongruenz – Geschlechtsidentität – Geschlechtsangleichung" erfahren möchten, dann können Sie sich auch auf den folgenden Vereinsseiten informieren:

Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V.

pro familia Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e.V. Bundesverband

Trans-Kinder-Netz (Trakine) e.V.

Trans-Ident e.V.

Der Artikel ist ursprünglich im Vivantes Magazin "gesund!" Ausgabe 03.2019 erschienen.

 

Porträtkinderfoto: Ruslan Gilmanshin / pixabay.com – 511881, Kinderfoto: Ales Kartal / pixabay.com – 2490803, Porträtfoto: Urban Ruths