Die eigene Erkrankung kennenlernen – durch Selbsthilfe
Gerade bei schweren Erkrankungen und in Notsituationen haben viele Menschen den Wunsch, von anderen Betroffenen gestützt zu werden und über die medizinische Behandlung hinaus selbst aktiv Lösungen zu finden. Deshalb ist der enge Austausch von Kliniken und Selbsthilfegruppen so wichtig. Suchtmediziner und Oberarzt Gilbert Galonska aus dem Department für seelische Gesundheit im Vivantes Klinikum Spandau berichtet, warum der Standort als erstes „selbsthilfefreundliches Krankenhaus“ in Berlin ausgezeichnet wurde.
Herr Galonska, Sie sind Suchtmediziner. Warum ist Selbsthilfe in diesem Bereich so wichtig?
Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Suchtkranke, die regelmäßig eine Selbsthilfegruppe aufsuchen, weniger Rückfälle haben, oder, wenn es doch dazu kommt, die Rückfälle weniger ausgeprägt sind. Sie setzen sich intensiver mit ihrer Erkrankung auseinander und laufen seltener Gefahr, zum Beispiel aus Leichtsinn rückfällig zu werden, nach dem Motto: Ich habe so lange nicht getrunken, jetzt kann mir nichts mehr passieren. Außerdem bauen sie sich ein Notfallnetz auf; wenn sie z.B. Trinkdruck haben, kennen sie Leute, mit denen sie reden können und die sie verstehen.
Sie sprechen von Alkoholabhängigkeit – gibt es auch Selbsthilfegruppen für andere Suchterkrankungen im Klinikum Spandau?
Ja, für alle bei uns behandelten Suchterkrankungen gibt es Selbsthilfegruppen, allein fünf unterschiedliche, die sich regelmäßig in unserer Klinik vorstellen. Die Teilnahme an Selbsthilfegruppen ist Teil des Therapieprogramms der Patient*innen, zu dem z.B. auch Ergotherapie, Bewegungstherapie, psychologische und sozialdienstliche Einzel- und Gruppentherapien gehören. Neben substanzgebundenen Abhängigkeiten, wie z.B. Alkohol-, Cannabis- oder Medikamentenabhängigkeit gibt es Selbsthilfegruppen auch für sogenannte nicht substanzgebundene Abhängigkeiten wie Spielsucht („Gaming Disorder“) oder Onlinesucht. Auch wenn die einzelnen Abhängigkeiten sehr unterschiedlich sein können, sind die neuronalen Vorgänge in unserem Gehirn, sehr ähnlich. Aber darüber hinaus gibt es auch für andere psychische Erkrankungen, wie z.B. bipolare Erkrankungen, Depressionen, Angststörungen oder Essstörungen Selbsthilfegruppen, die den Betroffenen eine große Stütze sein können. Unsere Aufgabe als Therapeuten ist es auch, über diese Möglichkeiten aufzuklären und den Patient*innen entsprechende Kontakte zu vermitteln.
Wie läuft das ganz praktisch?
Im Bereich der Suchterkrankungen kommen Betroffene erst nach durchschnittlich 10 Jahren der Abhängigkeit erstmals in spezifische Therapien. Zumeist lernen die Erkrankten erst hier das große Angebot der ambulanten Hilfemöglichkeiten kennen. In der Selbsthilfe unterscheiden wir Monologgruppen, in denen unkommentiert gesprochen wird und Dialoggruppen, in denen auch die anderen Teilnehmenden sich einbringen und ins Gespräch gehen. Grundlegende Voraussetzung ist die eigene Motivation, etwas zu verändern. Wer sich dafür entscheidet, nimmt verbindlich teil, denn die feste Tagesstruktur und die regelmäßigen sozialen Kontakte sind wichtig, damit die Therapie erfolgreich ist.
Wer sind die Ansprechpartner*innen, die Patient*innen in den Gruppen antreffen?
Die Selbsthilfegruppen werden von Betroffenen geleitet, die die Probleme am besten verstehen können, in denen sich unsere Patient*innen befinden. Sie haben schließlich im gleichen Schlamassel gesteckt. Psychische Erkrankungen sind nach wie vor gesellschaftlich sehr stigmatisiert, im Suchtbereich ist das noch ausgeprägter. Daher ist das Verständnis, das den Teilnehmenden entgegengebracht wird, besonders wichtig.
Welche Kriterien mussten erfüllt werden, um als selbsthilfefreundlich zertifiziert zu werden?
Dafür gibt es einen umfangreichen Katalog. Auf jeder Klinikstation brauchen wir eine oder einen Selbsthilfebeauftragte/n als Ansprechpartner*in, die zum Thema berät. Es mussten darüber hinaus Hinweisschilder und Flyer zur Information vorgehalten werden und es wurde ein zentraler Anlaufpunkt mit einen großen Schaukasten eingerichtet, wo sich Patient*innen z.B. über Termine informieren können. Mit dem Dachverband des Netzwerks Selbsthilfefreundlichkeit (genauer, der „Bundeskoordinationsstelle des Netzwerks Selbsthilfefreundlichkeit und Patientenorientierung im Gesundheitswesen“) gibt es alle zwei Wochen eine Sprechstunde, bei der sich Interessierte zusätzlich informieren können. Außerdem haben wir Gruppen für die Angehörigen der Betroffenen, die sich nach der Entlassung der Patient*innen treffen können.
Wie lief der Zertifizierungsprozess?
Es gibt schon seit 2019 eine Selbsthilfebeauftragte in unserer Klinik. Für die Zertifizierung haben wir uns dann zwei Jahre später beworben. Seit 2022 finden regelmäßige Treffen mit dem Qualitätszirkel des Netzwerks statt, um die Umsetzung zu besprechen. Es war ein aufwändiges Verfahren, umso mehr freuen wir uns jetzt über die Auszeichnung als Selbsthilfefreundliches Krankenhaus, das erste in ganz Berlin! Diesen Erfolg haben wir unserem engagierten Team zu verdanken, das den gesamten Prozess begleitet und zum erfolgreichen Ende gebracht hat.
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