Genesungsbegleiter für psychiatrische Patienten: „Ich bin Gesprächspartner und Sprachrohr“
Wie reagieren die meisten Patient*innen auf Sie als Genesungsbegleiter, Herr Pilney?
Oft komme ich ja auf dem Stationsflur mit Patient*innen zum ersten Mal ins Gespräch. Sie fragen mich dann oft, was ich als Genesungsbegleiter eigentlich mache. Ich erkläre dann, dass ich auf der Station nur für sie, die Patient*innen, da bin. Darüber freuen sich die meisten und finden das ganz toll. Mir ist es wichtig, den Menschen dabei auf Augenhöhe zu begegnen und nicht zu werten, auch wenn ein Mensch auch noch so weit weg erscheint oder vielleicht gerade absurde Fantasien hat.
Was raten Sie Menschen in einer Krise?
Ich sage oft: Eine Krise ist auch immer eine Chance, etwas im Leben zu verändern. Ich rate Menschen in einer Krise aber eigentlich gar nichts, weil sie genug Rat von anderen bekommen. Sondern ich lasse das Gespräch einfach laufen. Ich stelle natürlich auch Fragen oder erzähle manchmal etwas von meiner Geschichte – dass ich selbst krisenerfahren bin. Das interessiert die meisten natürlich sehr und sie wollen mehr darüber wissen. So entwickelt sich eine Beziehung.
Ist es motivierend, wenn Patient*innen in der Psychiatrie jemanden wie sie treffen, der selbst eine Krise überwunden hat?
Ja, sicher ist es für sie motivierend. Das zeigt ihnen ja: Man kann es schaffen. Sie fragen dann nach und ich erzähle gerne meine eigenen Erfahrungen. Aber jeder muss seinen eigenen Weg gehen. Ich kann immer nur unterstützend dabeistehen.
Was machen Sie als Genesungsbegleiter konkret?
Neben vielen Gesprächen auf der Station gehe ich zum Beispiel mit Patient*innen spazieren oder helfe bei Erledigungen. Ich betreue demnächst auch wieder eine Praktikantin, die eine Ausbildung zur Genesungsbegleiterin macht.
Im Team habe ich meinen Platz gefunden: Auch wenn ich ausschließlich für die Patient*innen da bin, gebe ich den Pflegenden, den Therapeut*innen, Ärzt*innen und Sozialarbeiter*innen Rückmeldungen. Ich bin ja auch das Sprachrohr und der Fürsprecher der Patient*innen. Denn ich habe manchmal einen anderen Blick, kann mich vielleicht anders in die Patient*innen hineinversetzen.
Welche Rolle haben Sie im Team?
Eine Vermittlerrolle, würde ich am ehesten sagen.Wenn ich denke, dass etwas nicht gut für die Patient*innen läuft, sage ich das auch oder frage, ob wir das nicht anders lösen können. Und ich merke, dass das, was ich kritisiere auch ankommt und ich etwas für die Patient*innen bewirken kann. Bei Besprechungen und in der Supervision bin ich dabei.
Seit März 2023 bin ich hier auf der Station und ich liebe diesen Beruf. Ich versuche, hier zusammen mit dem Team etwas für unsere Patient*innen zu erreichen. Dabei habe dabei selbst keinen Druck, dass ich etwas Besonderes leisten müsste. Ich kann einfach ich sein und mich hier einbringen.
Können Sie uns ein besonderes Erlebnis als Genesungsbegleiter schildern?
Ich habe einen Patienten ein halbes Jahr begleitet - und er hat immer und immer wieder dieselben Fragen gestellt, weil er sich Sorgen über die Zeit nach seiner Entlassung gemacht hat. Und ich habe immer und immer wieder geduldig geantwortet, dass uns dann kümmern. Als er entlassen werden sollte, habe ich ihn unterstützt, auch mit praktischen Besorgungen. Später habe ich ihn wiedergetroffen und er hat er sich für meine Hilfe bedankt. Solche Rückmeldungen sind für mich ganz toll. Viele bedanken sich auch bei mir einfach für mein offenes Ohr und meine Zeit.
Wie gehen Sie mit Erlebnissen im Arbeitsalltag um? Ist das nicht belastend für Sie?
Grundsätzlich finde ich es großartig, wenn sich Patient*innen mir gegenüber öffnen können. Ich mache mir immer wieder klar, was ich für eine Rolle in diesem „System Psychiatrie“ habe und grenze mich ab. Ich komme inzwischen gut damit zurecht: Ich nehme nicht nur an der Supervision hier teil, sondern ich habe auch privat ein gutes Netzwerk, bespreche vieles mit meiner eigenen Therapeutin. Ich habe inzwischen eine gute Lösung, wie ich das, was auf der Station passiert, zurücklassen kann: In meinem Kopf habe ich einen Schrank mit vielen schönen, farbigen Kugeln und jede Kugel steht für einen Patienten oder eine Patientin. Ich kann den Schrank quasischließen, wenn ich nach Hause gehe, aber manchmal öffne ich die Schranktüren auch und schaue mir eine Kugel an.
Wie kamen Sie darauf, Genesungsbegleiter zu werden?
Ein Freund von mir war schon Genesungsbegleiter und hat mich darauf angesprochen, ob das nicht auch das Richtige für mich wäre. Ich hatte ja selber eine Krise überwunden und habe mir dann überlegt, dass ich etwas daraus machen möchte. Ich habe mich sehr viel mit mir auseinandergesetzt und habe ein gutes Netzwerk aufgebaut. Außerdem kenne ich psychiatrische Stationen von innen und weiß ja selbst, wie es ist, mit einer psychischen Erkrankung umzugehen – die besten Voraussetzungen also. Ich habe mir das dann länger überlegt und auch mit anderen besprochen und habe mich dann bei Pinel beworben.
Wie war die Ausbildung?
Die Ausbildung lief ein Jahr. Auch die anderen aus meiner Ausbildungsgruppe haben mich dabei geprägt, denn sie haben auch ihre Erfahrungen geteilt und daraus habe ich viel gelernt. Auch in den zwei Praktika in der Ausbildung habe ich gemerkt, dass dies ein guter und sinnvoller Job für mich ist.
Wenn jemand überlegt, selbst Genesungsbegleiter*in zu werden, was können Sie ihr oder ihm raten?
Viele denken ja, Genesungsbegleiter*innen brauchen über psychische Erkrankungen fachspezifisches Wissen. Das ist aber gar nicht unbedingt so, denn viel wertvoller sind ihre eigenen Erfahrungen. Es geht vielmehr darum, den Menschen zu sehen – und nicht die Erkrankung. Wir sind keine Fachleute, sondern eben Menschen mit Erfahrung, die sich einbringen.
Fotos: Astrid Steuber/ Vivantes
Ein*e Genesungsbegleiter*in nutzt ihre eigenen Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen, um Betroffene zu unterstützen, was eine Vertrauensbasis schafft.
Zu den Aufgaben gehört es, emotional und praktisch auf dem Weg zur Genesung zu helfen. Dafür hören Genesungsbegleiter*innen Betroffenen zu, tauschen sich auch über eigene Erfahrungen aus und ermutigen, aktiv an der Genesung mitzuwirken. Sie helfen auch, über weitere Therapieangebote, Selbsthilfemöglichkeiten und Unterstützungsangebote aufzuklären und diese zu vermitteln.
Genesungsbegleitung im Trialog
Die Arbeit der Genesungsbegleiter*innen ist durch ein trialogisches Verständnis geprägt, das die eigene Perspektive als Psychiatrie-Erfahrene*r in ein Verhältnis zu der Perspektive von Angehörigen und Professionellen sieht. Genesungsbegleitung kann also für die an der Genesung beteiligten Gruppen Schnittstelle, Brücke oder Bindeglied sein.
Ausbildung: Wie wird man Genesungsbeleiter*in?
Die Ausbildung erfordert eigene Krisenerfahrungen und psychische Stabilität. Vermittelt wird in der Ausbildung theoretisches Wissen über psychische Erkrankungen, Kommunikations- und Beratungstechniken sowie rechtliche und ethische Grundlagen. Praktika in psychiatrischen Einrichtungen oder Selbsthilfegruppen sind in der Regel der Ausbildung, die mit einem Zertifikat abgeschlossen wird.
Diese Ausbildung geht von dem EU-weiten EX-IN-Projekt aus, welches seit 2005 besteht ("Experienced Involvement", übersetzt "Experten aus Erfahrung"). Die Ausbildung zur Genesungsbegleiter*in kann man z.B in Berlin bei Pinel absolvieren: Weiterbildung Ex-In Berlin - Pinel gGmbH.
Mehr zur Ausbildung: "Die Genesungsbegleitung ist aus dem sozialpsychiatrischen Hilfesystem nicht mehr wegzudenken" - Qualifizierung Digital