Medizin für den ganzen Menschen - von der Bedeutung der klinischen Ethikarbeit
Patient*innen und Angehörige vertrauen sich Kliniken zur Behandlung an. Gerade bei lebenswichtigen Entscheidungen geht es häufig nicht nur um medizinische Fragen und mögliche Therapien, sondern um sehr individuelle persönliche Bedürfnisse. Um die Ethikarbeit an den Standorten und bei den Vivantes Tochtergesellschaften zu unterstützen, sind die Strukturen der ethischen Arbeit unter dem Vivantes Ethikrat gebündelt, der von Dr. Mina Baumgarten geleitet wird.
Frau Dr. Baumgarten, warum engagiert sich Vivantes für Ethikarbeit?
Zentraler Aspekt der Gesundheitsversorgung sollte stets die Qualität sein: Wir wollen eine bestmögliche Behandlung und Betreuung. Um zu beantworten, was das ist, müssen wir die Patient*innen unabdingbar im Blick haben und uns in der Planung und Umsetzung von Behandlung, Pflege und Betreuung an ihren Bedürfnissen orientieren, die natürlich sehr unterschiedlich sein können. Dadurch kommt es nicht selten zu ethisch schwierigen oder herausfordernden Situation. Ethikarbeit unterstützt dabei unsere Mitarbeitenden im Umgang mit den Patient*innen, Bewohner*innen und den uns anvertrauten Menschen und ermöglicht jedem Einzelnen eine Kompetenzentwicklung in der Argumentation bei ethischen Fragestellungen. Eine strukturierte Ethikarbeit ist dabei ein Qualitätskriterium von wachsender Bedeutung.
Welche Fragestellungen betrifft das?
Jeder Mensch hat ein anderes Verhältnis zu seinem Körper, hat bestimmte Werte und Vorstellungen. Kümmert sich um Prävention, oder auch nicht. Setzt sich mit dem Tod auseinander, oder auch nicht. Hat einen hohen Leidensdruck, oder auch nicht. Oft gibt es bei der Selbstbestimmung kein „richtig“ oder „falsch“ – es geht nicht um Medizin, sondern um eigenes Empfinden, oder Erfahrungen, um Moral, Ethik, Tradition oder Religion, es geht auch um individuelle Lebensumstände und Zielsetzungen.
Wenn es keine eindeutigen Antworten gibt – wie kann die Ethikarbeit helfen?
Wir alle handeln aus eigenen individuellen Motiven, zum Beispiel aus moralischen. Ob ich mich für eine Organspende entscheide, hängt von meinen Werten und meinem Willen ab, oder wird beispielsweise beeinflusst von der Berichterstattung. Ein sehr alter Mensch kann zwar intensivmedizinisch beatmet werden, hat aber in einem konkreten Fall keinen Lebenswillen mehr, weil er seine Ehefrau gerade verloren hat. Oder wenn eine Patientin am Lebensende die Nahrungsaufnahme verweigert, setzt sich vielleicht ihr Sohn für eine künstliche Ernährung ein, die Tochter dagegen möchte diese einstellen, oder umgekehrt…
Oft gibt es bei der Selbstbestimmung kein „richtig“ oder „falsch“ – es geht nicht um Medizin, sondern um eigenes Empfinden, oder Erfahrungen, um Moral, Ethik, Tradition oder Religion, es geht auch um individuelle Lebensumstände und Zielsetzungen.
Bestehende Widersprüche oder Konflikte kann die Ethikarbeit nicht auflösen, aber sie kann helfen zu sortieren, Wünsche der Beteiligten Personen zu begründen oder zu verstehen, und beispielsweise zu unterscheiden zwischen gesellschaftlichen Normen und den manchmal widerstreitenden Positionen der Einzelnen. Die schweren Entscheidungen müssen immer noch getroffen werden, aber im Idealfall fühlen sich das medizinische Personal und auch die Angehörigen damit nicht allein gelassen. Letztlich geht es um die ganz großen Lebensthemen, so wie zum Beispiel um Fürsorge, Gerechtigkeit, Autonomie und die Vermeidung von Leid.
Gibt es für solche Situationen nicht eine Patientenverfügung?
Das stimmt. Aber wie in den beschriebenen Beispielen kann es trotzdem zu Konflikten kommen, weil ein Punkt nicht detailliert ausformuliert wurde, oder der „mutmaßliche Wille“ des Menschen sich im Laufe der Zeit geändert hat, die Umstände andere sind, die Patientin dies aber nicht mehr sagen kann.
Wie sind Sie bei Vivantes organisiert?
Die Ethikarbeit hat bei Vivantes bereits eine lange Tradition. Auf Ebene der Standorte beraten die lokalen Ethikkomitees (oder auch Klinische Ethikkomitees genannt) zu individuellen und konkreten ethischen Fällen. Hier ist die interdisziplinäre und interprofessionelle Ausrichtung besonders wichtig. Denn jede Profession hat einen anderen Blick auf eine Fragestellung –Kliniker*innen wie Pflegekräfte, Ärzt*innen, Therapeut*innen und Kolleg*innen aus dem Sozialdienst, aber auch Jurist*innen und Seelsorgende. Alle bringen sich in die Ethikarbeit ein.
In Vivantes Hauptstadtpflege und im Hospiz bestehen zudem Expertengruppen, die dort spezifische Fragestellungen aufgreifen und im Sinne Ihrer Bewohner*innen und Patient*innen bearbeiten.
Gemeinsame Erarbeitung von Empfehlungen im Ethikrat
Ein besonderer Fokus der letzten Jahre ist es, für diese direkte Ethikarbeit verlässliche Standards zu schaffen und insbesondere auch sich mit übergreifenden Themen im Vivantes Netzwerk gemeinsam auseinanderzusetzen. Dies geschieht im Vivantes Ethikrat, in dem die Vorsitzende der Ethikkomittees und Expertengruppen ebenso vertreten sind, wie Sprecher*innen der Seelsorge. Hier erarbeiten wir gemeinsam die Standardprozesse für Anforderung und Dokumentation von Ethikberatungen. Auch Schulungs- und Weiterbildungsbedarfe zur Stärkung der Kompetenz vor Ort werden im regelmäßig tagenden Gremium diskutiert und koordiniert. Es entstehen außerdem Arbeitsgruppen, die sich mit aktuellen Fokusthemen, wie beispielsweise dem Umgang mit Wünschen nach assistiertem Suizid, und der Perspektive von Vivantes darauf beschäftigen und Empfehlungen erarbeiten.