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Alkohol in der Familie – und wie Eltern davon loskommen

Der Psychiater und Experte für Entwöhnungstherapie Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai, begleitet Menschen dabei, ihren Weg aus der Sucht zu finden, häufig aus der Alkoholsucht. Der Chefarzt in der Hartmut-Spittler-Fachklinik im Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum hat auch die Kinder der Betroffenen dabei stets mit im Blick.

Wenn Laura von der Schule nach Hause kommt, weiß sie nie, was sie erwartet: ein liebevoll hergerichtetes Mittagessen – oder eine leere Küche. Steht nichts auf dem Tisch, macht sie sich schnell an die Arbeit und brutzelt etwas für sich und ihre Geschwister. Laura ist 14 Jahre alt, ihre Mutter ist alkoholabhängig.

Kinder übernehmen zu früh Verantwortung

„Kinder von Alkoholkranken Eltern übernehmen häufig zu früh zu viel Verantwortung“, weiß Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai, Chefarzt in der Hartmut-Spittler-Fachklinik im Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum. Der Psychiater und Experte für Entwöhnungstherapie begleitet täglich Menschen dabei, ihren Weg aus der Sucht zu finden. Die Kinder der Betroffenen hat er dabei stets mit im Blick. „Viele von ihnen sind überfordert“, erklärt Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai. „Sie versuchen für ihre Eltern einzuspringen. Für die in ihrem Alter typischen Entwicklungsaufgaben bleibt dabei keine Zeit mehr: Schulprobleme entstehen und Freundschaften zerbrechen. Die Kinder fühlen sich alleingelassen. Doch aus Angst vor möglichen Konsequenzen trauen sie sich nicht, über ihre familiären Probleme zu sprechen. Vielmehr neigen sie dazu, sich überanzupassen, um bloß nicht aufzufallen.“

Einfach mal zusammenreißen?

Es gibt unterschiedlich ausgeprägte Formen von Sucht, auch Konsumstörung genannt. Beim Alkoholismus unterscheidet man zwischen den Kategorien risikoarm, riskant, schädlich und abhängig. Bei einer Frau sind 12 Milligramm Alkohol, die etwa 0,3 Liter Bier entsprechen, und bei einem Mann 24 Gramm Alkohol risikoarm – und zwar pro Tag und höchstens fünfmal in der Woche. Alles darüber hinaus ist bereits riskant. Für die Diagnose einer Abhängigkeit hat die Weltgesundheits-organisation sechs Kriterien definiert (siehe Bild).

„Alkoholkonsum ist in vielen Familien selbstverständlich. Sie empfinden es als entspannend“, sagt Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai. „Doch unter höherem Alkoholeinfluss können Eltern die Bedürfnisse ihres Kindes nicht mehr erkennen und bringen ihm nicht die nötige Aufmerksamkeit entgegen. Es fehlt an familiärer Verlässlichkeit.“ Das Problembewusstsein dafür ist jedoch oft nicht vorhanden. Auch Angehörige und Freunde verschließen meist die Augen vor den Anzeichen einer Sucht: Jeder trinke doch mal etwas über den Durst. Die Person müsse sich halt nur etwas mehr zusammenreißen – aber dafür sei doch kein Arzt notwendig, lautet die verbreitete Meinung. Diese falsche Toleranz ist unter anderem mit ein Grund dafür, dass zwei Drittel der Menschen mit Konsumstörungen erst nach zwölf Jahren qualifizierte Hilfe in Anspruch nehmen– für ihre Kinder ein langer Spießrutenlauf.

Direkt ansprechen

„Wenn Ihnen Anzeichen auffallen, sei es dass der Vater oder die Mutter nach Alkohol riechen oder sie beim Abholen aus der Kita oder vom Training oft unzuverlässig sind, sprechen Sie sie darauf an“, rät Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai. „Denn allein das Anreden der Eltern entlastet die Kinder. Es gibt ihnen das Gefühl, nicht alleine mit der Situation zu sein, sondern gesehen zu werden.“

Dabei sei jedoch eines wichtig, betont der Chefarzt: keine Vorwürfe zu machen, sondern Ich-Botschaften zu formulieren. „Sprechen Sie nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern sagen Sie stattdessen, dass Sie sich Sorgen machen.“ Aufmerksam sein lohnt sich: Gut ein Drittel der Kinder von alkoholabhängigen Eltern entwickeln später selbst seelische Krankheiten oder eine Konsumstörung. Denn Suchterkrankungen
Sind zwar nicht erblich, aber die Kinder lernen vom Verhalten der Erwachsenen. „Wenn Eltern in bestimmten Momenten trinken, zum Beispiel um zur Ruhe zu kommen, dann kann es passieren, dass Kinder dies später imitieren“, erklärt Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai. „Sie haben nicht gelernt, auf die gängigen Strategien zu vertrauen, beispielsweise mit jemanden zu sprechen.“

Training für das Leben „danach“

„Beim Aufnahmegespräch erfassen wir, ob unsere Patientinnen und Patienten Kinder haben und ob sie bereits Unterstützung erhalten oder welche benötigen“, berichtet der Entwöhnungsexperte. Zudem können sich die Elternteile in der Hartmut-Spittler-Fachklinik von einer anerkannten Kinderschutzkraft unterstützen lassen. Sie führt Einzelberatungen durch und bietet ein Skill-Training an. Dort lernen die Betroffenen, Herausforderungen im Familienleben zu identifizieren und individuelle Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Auch hilft sie dabei, zu Hause ein Netzwerk aufzubauen. Es soll erleichtern, das neu erlernte Verhalten langfristig umzusetzen.

Kinder sind oft größte Motivation

„Für Elternteile sind ihre Kinder oft die größte Motivation, gesund zu werden – das ist Chance und Herausforderung zugleich“, so Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai. „Denn sie haben Angst davor, dass die Therapeutinnen und Therapeuten prüfen, ob sie fähig sind, ihre elterlichen Aufgaben zu erfüllen. Hier ist viel Fingerspitzengefühl gefragt: Wenn es einem gelingt, gemeinsam Strategien zu entwickeln und zu vermitteln, dass es vollkommen in Ordnung ist, als Familie Hilfe in Anspruch zu nehmen, dann ist das goldwert – für die Eltern und die Kinder.“


Hilfe für Kinder und Jugendliche

Vivantes kooperiert mit ESCAPE, der ambulanten Jugend- und Familienhilfe in Tempelhof Schöneberg. Der Verein betreut in allen Berliner Bezirken Kinder, Jugendliche und Eltern, die suchtmittelgefährdet, -missbrauchend oder -abhängig sind. Weitere Informationen erhalten Sie unter:
www.drogennotdienst.de/jugend-und-familienhilfe

Kontakt:
24-STUNDEN-KONTAKTTELEFON: 030 130 20 8600

Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai, MBA, Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Entwöhnung am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum

Rubensstraße 125, 12157 Berlin
Email: darius.chahmoraditabatabai@vivantes.de


Dieser Artikel ist auch erscheinen im Magazin Vivantes Gesund, Ausgabe 2/2020.

Fotos: Vivantes, Pixabay.de, eigene Graphik